Emotion und Ratio in den transatlantischen Beziehungen
Antiamerikanismus ist weitaus häufiger in emotionalen Kategorien zu beobachten als in rationalen Kategorien. Jemand ärgert sich über eine Aktion oder eine aussenpolitische Stellungnahme der Vereinigten Staaten und lässt seinem Aerger freien Lauf. Allerdings bin ich mit diesem Beispiel schon mitten im Problem. Derjenige, der seinem Aerger freien Lauf gelassen hat, verwendet das Wort «antiamerikanisch» ja selber nicht, sondern es sind andere, die seine Aeusserung im Nachhinein als antiamerikanisch qualifizieren. Und diese Qualifikation bedient sich durchaus rationaler Kategorien. Sie bringt zum Ausdruck, dass die verärgerte Stellungnahme nicht objektiv sei, weil sie von einem gegen die Vereinigten Staaten gerichteten Vorurteil ausgehe. Die Stellungnahme sei deshalb nicht ernst zu nehmen. Wenn das Wort «antiamerikanisch» effektiv ausgesprochen wird, so ist es immer in diesem Sinne, dass also eine anderen Aussage abqualifiziert werden soll.
Wenn wir den Antiamerikanismus in Europa verstehen wollen, so müssen wir die Verhältnisse rational analysieren. Dabei geht es um unterschiedliche Entwicklungen Europas und der Vereinigten Staaten, die historisch auf Jahrhunderte zurückreichen. Bevor ich auf diese Unterschiede eingehe, möchte ich noch zwei kurze Vorbemerkungen machen. Zum einen verwende ich das Wort «Antiamerikanismus» wie der Begriff weltweit Verwendung findet. Dieser Begriff ist aber insofern ungenau, als damit immer nur die Vereinigten Staaten gemeint sind, nicht etwa der nordamerikanische Kontinent oder gar der Doppelkontinent Nord- und Südamerika, welchen gemeinsam der Name «Amerika» genau genommen zusteht. Das rührt natürlich daher, dass US-Amerikaner selber mit Amerika immer die Vereinigten Staaten meinen, und dies nicht zur grossen Freude der Mexikaner oder der Kanadier. Ich habe dies während meiner fünfjährigen Arbeit in Sarajevo begriffen, wo ich häufig mit Kanadierinnen und Kanadiern zusammenarbeitete. Deshalb will ich hier wenigstens erwähnt haben, dass ich mir dieser Ungenauigkeit bewusst bin, auch wenn ich mich nun im folgenden an den üblichen Sprachgebrauch von «Antiamerikanismus» halte. Damit bin ich bereits bei der zweiten Vorbemerkung, sie betrifft meine Arbeit als Menschenrechtsbeauftragte in Bosnien. Der Wiederaufbau dieses Landes basiert auf dem Friedensabkommen von Dayton, welches sehr stark von einem US-amerikanischen Rechts-, Staats- und Gesellschaftsverständnis geprägt ist. Bosnien liegt aber in Europa, und so kommt es, dass dieses Land in der Nachkriegszeit – also nach 1995 – wohl das einzige Gebiet darstellt, in welchem dieses unterschiedliche Verständnis zwischen Europa und den USA im Massstab eins zu eins beobachtet werden konnte. Den historischen Gründen für diese Unterschiede bin ich nach meiner Rückkehr vertieft nachgegangen und daraus ist das Buch mit dem Titel «Die Grenzen der Solidarität» entstanden. Ich habe mit diesem Buch übrigens eine interessante Erfahrung gemacht. Verschiedene Rezensionen in Deutschland vermerkten, meine Ausführungen seien wohltuend, weil sie nichts Antiamerikanisches hätten. Umgekehrt wurde das Buch in der Schweiz eher als antiamerikanisch eingestuft. Ich schliesse daraus, dass Antiamerikanismus auch in Europa nicht überall das selbe ist.
Nun also zu den historisch gewachsenen transatlantischen Unterschieden. Einsetzen möchte ich beim nationalen Selbstverständnis der Vereinigten Staaten, welches sich massgeblich von demjenigen aller europäischen Staaten unterscheidet. Die Differenz geht auf das 17.Jahrhundert zurück. Mit dem westfälischen Frieden kam in Europa 1648 ein Jahrhundert blutiger Religionskriege zum Abschluss. Europa hat damals den religiös oder moralisch begründeten Krieg geächtet und hat die Religion definitiv dem Staat untergeordnet. Gleichzeitig begann die Auswanderung nach Amerika. Die meisten Auswanderer wählten den Weg über den Atlantik aus wirtschaftlicher Not oder aus Abenteuerlust. Die wenigen, die aber eine weltanschauliche Motivation hatten, wollten genau diese neue europäische Rangordnung zwischen Staat und Religion nicht anerkennen. Insbesondere die puritanischen Pilgerväter verstanden ihre religiösen Gemeinschaften als die öffentliche Ordnungsstruktur schlechthin, die gar keinen Staat brauchte. Sie gingen von der Idee des auserwählten Volkes Gottes aus und lehnten jede staatliche Einmischung ab. So kam es in Amerika zur strikten Trennung von Kirche und Staat. Diese hatte nie den Sinn, den Staat vor der Religion zu schützen, wie das für Europa gilt. Es geht im Gegenteil darum, die Religion vor dem Staat zu schützen, denn in den Vereinigten Staaten steht die Religion über dem Staat.
Als im ausgehenden 18.Jahrhundert Nationalstaaten geschaffen wurden, entfaltete dieser Unterschied seine Wirkung. Die europäischen Nationen wurden ausnahmslos staatspolitisch begründet. Die US-amerikanische Nation begründet sich hingegen religiös und moralisch. Die religiöse Begründung äussert sich in der Vorstellung vom «auserwählten Volk Gottes» im alt-testamentlichen Sinne, die moralische Begründung äussert sich darin, dass diese Nation das Gute schlechthin verkörpere. Eine andere Begründung der amerikanischen Nation war gar nicht möglich, denn eine staatspolitische Identität im europäischen Sinne gibt es in den Vereinigten Staaten nicht, weil die Rangordnung zwischen Staat und Religion umgekehrt ist.
Dass sich die US-amerikanische Nation religiös und moralisch begründet, wird heute vor allem im Völkerrecht sichtbar. Das Völkerrecht wurde in Europa ebenfalls im Westfälischen Frieden 1648 erfunden. Es ist eine zwischenstaatliche rechtliche Ordnung, der sich die Staaten freiwillig unterstellen, womit sie einen teilweisen Souveränitätsverzicht leisten. Seit einigen Jahren – genau besehen seit 1990 – verweigern die Vereinigten Staaten immer systematischer die Teilnahme an völkerrechtlichen Verträgen. Man sollte aber nicht vergessen, dass auch diese Haltung eine sehr lange Tradition hat. Schon seit Jahrzehnten anerkennt diese Nation keine einzige Individualbeschwerde wegen Verletzung internationaler Menschenrechtsübereinkommen, obwohl sie im Rahmen der UNO wie auch der inter-amerikanischen Menschenrechtskonvention vielfältige Gelegenheit dazu hätte. Es wäre deshalb falsch zu meinen, diese Haltung sei von der Administration des gegenwärtigen Präsidenten erfunden worden.
Heute bevorzugen die USA deklariertermassen die Zusammenarbeit mit befreundeten Staaten von Fall zu Fall, und sie setzen die sogenannte «Koalition der Willigen» an die Stelle der völkerrechtlichen Einbindung. Damit tritt aber die Moral an die Stelle des Rechts: Eine weltweite völkerrechtlich Ordnung muss nämlich moralisch neutral sein, damit sie ihr Ziel erreichen kann. Die UNO und die internationalen Vertragswerke müssen möglichst viele Staaten einbinden, ohne zu unterscheiden zwischen «guten» oder «bösen» Staaten. Die sogenannte «Koalition der Willigen» ist hingegen ein moralisches Konzept, indem die «Willigen» zu Freunden der USA werden. Die «Willigen» sind die «Guten» , die «Unwilligen» werden unterschiedlich benannt, das Spektrum reicht vom Begriff der «getrübten Freundschaft» bis hin zum sogenannten «Schurkenstaat» . All dies sind moralische Begriffe. Das Freund-Feind-Schema, welches die Vereinigten Staaten heute zur Anwendung bringen, ist die direkte Gegenposition zu einer weltweiten völkerrechtlichen Einbindung. Die beiden Konzepte schliessen sich gegenseitig aus.
Dass die langsam gewachsene Ordnung des Völkerrechtes heute plötzlich gefährdet erscheint, ist einfach zu erklären. Seit 1990 sind wir zum ersten mal in der Geschichte mit einer neuen Konstellation konfrontiert. Bis zum ersten Weltkrieg lebte Amerika ziemlich isoliert. Danach begannen sich die USA für die Welt zu interessieren, hatten aber immer einen militärisch starken Gegner: Der erste Weltkrieg ging sehr bald in den zweiten über, gefolgt von der Bedrohung durch die UDSSR. Im Kalten Krieg verhielten sich die Vereinigten Staaten relativ europäisch, denn der Ostblock musste auch völkerrechtlich eingebunden werden. Und wenn man den Gegner rechtlich einbinden will, muss man sich auch selber einbinden lassen. Erst seit der Implosion des Sowjetreiches bricht das US-nationale Selbstverständnis uneingeschränkt durch. Zwar macht die Person des heutigen US-Präsidenten die Rolle der Religion in der US-nationalen Identität besonders deutlich. Trotzdem wäre es falsch, die gegenwärtige Weltlage auf die heutige US-Administration zurückzuführen. Alle Anzeichen des Wandels waren bereits seit 1990 zu beobachten.
Nun komme ich zum hier entscheidenden Begriff in den transatlantischen Unterschieden. Es ist der Begriff des «Bekenntnisses» . Die US-amerikanische Nation ist darauf angewiesen, dass man sich immer wieder öffentlich zu ihr bekennt. Wie ich bereits erwähnte, spielte die Vorstellung, von Gott als Volk auserwählt zu sein, von den Anfängen der Einwanderung an eine grosse Rolle. Dieser Mythos war damals zum Teil auch ein Ersatz für ein Volk mit gemeinsamer Geschichte. Ein solches war ja nicht vorhanden, denn die Einwanderer stammten aus ganz verschiedenen Ländern. Einerseits gab und gibt es in den USA eine fast unbegrenzte religiöse Toleranz, indem man frei wählen kann, zu welcher Religionsgemeinschaft man gehören will, oder ob man sich zum Atheismus bekennt. Dass man sich aber zu irgend etwas bekennt, darum kommt man nicht herum. Das Bekenntnis ist nämlich geradezu Voraussetzung für die Integration in das amerikanische Volk. Ernest Gellner weist darauf hin, dass Religiosität viel eher ein Ausdruck des «American way of life» ist als ein Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft (1). Die Uebernahme dieses «American way of life» spielte und spielt heute noch für Einwanderer eine wichtige Rolle, wenn sie möglichst rasche Zugehörigkeit zur amerikanischen Gesellschaft erlangen wollen, denn durch eine rasche Uebernahme bekennen sie sich nach aussen sichtbar zu den Vereinigten Staaten. In den Vereinigten Staaten ist das immer wiederkehrende Bekenntnis unabdingbar, es bezieht sich auf die religiös und moralisch begründete Nation, wie man insbesondere nach dem 11.September 2001 hat beobachten können. Aber es bezieht sich auch auf andere Dinge. Durch die verschiedenen Bekenntnisse einer Person erfährt man, mit wem man es zu tun hat.
Da zeigt sich nun auch ein transatlantischer Unterschied im Freiheitsverständnis. In der Ablehnung von diktatorischen Staats- und Regierungsformen und des Totalitarismus bedeutet Freiheit diesseits und jenseits des Atlantiks zwar das selbe. Im Bereich der «Staatlichkeit» haben Europäerinnen und Europäer in ihrer geschichtlichen Entwicklung jedoch eine Bindung akzeptiert, welche ihnen wiederum ihre Freiheit garantiert, und aufgrund deren sie über eine staatspolitische Identität verfügen. Diese Freiheit der Europäerinnen und Europäer umfasst auch die «Freiheit vom Bekenntniszwang» . Staatlichkeit verlangt keine Identifikation, keinen Glauben an diesen Staat, schon gar nicht ein Bekenntnis zu ihm: Staatsbürger oder Personen, die einer Staatlichkeit unterworfen sind, deren Bürgerrecht sie nicht besitzen, können durchaus innere Vorbehalte haben gegen diese Staatlichkeit, eine innere Reserve oder eine ideelle Distanz. Sie müssen sich lediglich an die Rechte und Pflichten halten, die das Gesetz im Verhältnis zwischen ihnen und dem Staat vorsieht. Auch diese europäische Freiheit basiert auf der Trennung von Recht und Moral. Der transatlantische Unterschied ist jedoch auch darauf zurückzuführen, dass Europa den Staat als dritte Dimension kennt, und dass die Staatlichkeit als staatspolitische Identität über die rein horizontalen Beziehungen zwischen den Individuen hinausgeht. In den Vereinigten Staaten hat demgegenüber die Religion die Funktion dieser dritten Dimension übernommen. In einer kürzlich erschienenen Publikation hat Rainer Prätorius ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich in den USA der Hang zum öffentlichen Bekennertum vom religiösen Bereich auf die Politik überträgt. Er stellt die Frage, wie sicher sich die Bürger dieses Landes ihrer Demokratie wohl seien, wenn dieses Bekenntnis immer wieder verlangt werde. Die Frage lässt er aber richtigerweise offen und ersetzt die Antwort durch den lapidaren Hinweis, ein solcher Verdacht sei eben nur typisch europäisch (2).
Damit habe ich nun auch erklärt, warum der Titel meines Referates von drei Begriffen ausgeht, deren erster «Amerikanismus» heisst. Mit Amerikanismus meine ich genau dies, dass nämlich die US-amerikanische Nation darauf angewiesen ist, dass man sich immer wieder zu ihr bekennt. Und so komme ich nun zum zweiten Begriff, zum «Antieuropäismus» . Bevor ich erläutere, was ich darunter verstehe, möchte ich aber auch hier eine Vorbemerkung machen, die gleichzeitig eine Nachbemerkung zum bisher Ausgeführten darstellt. Den Idealtypus «Europäer / Europäerin» oder den Idealtypus «US-Amerikaner / Amerikanerin» gibt es nicht. Es werden sich immer zahllose US-Amerikanerinnen und Amerikaner finden lassen, welche viel «europäischer» sind als viele Europäerinnen und Europäer. Und es werden sich zahllose Europäerinnen und Europäer finden lassen, welche viel «amerikanischer» sind als manche Amerikanerinnen und Amerikaner. Freiheitliche Gesellschaften – und das sind beide, diesseits und jenseits des Atlantiks – zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass der oder die Einzelne seine oder ihre Identität frei wählt. Was ich thematisiere ist kein Idealtypus, sondern es ist der gesellschaftliche Rückhalt, der den Individuen in ihrer freigewählten Identität angeboten wird, und in welchem die transatlantischen Unterschiede spürbar sind. Es dürfte unbestritten sein, dass sich dieser gesellschaftliche Rückhalt auf das kollektive Selbstverständnis auch dann auswirkt, wenn einzelne Individuen diesen Rückhalt gar nicht benötigen oder sich bewusst von ihm abgrenzen. Er ist sogar dann wirksam, wenn eine Gesellschaft sehr individualistisch funktioniert und es deshalb geradezu zum guten Ton gehört, sich von diesem Rückhalt abzugrenzen. Dies ist insbesondere in Krisenzeiten oder in sonstwie bedingter kollektiver Regression auf vertraute Werte der Fall, wie sie weltweit nach dem 11.September 2001 in verschiedenen Kulturkreisen hat beobachtet werden können. Wenn ich also nun auf den US-amerikanischen Antieuropäismus zu sprechen komme, so schildere ich nicht eine Haltung, die alle Bewohner dieses Landes teilen würden, sondern eine Grundtendenz im nationalen Selbstverständnis.
Zunächst muss ich nochmals auf die Gründungszeit zurückgehen. Europa war in der ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts durch die Religionskriege blutig und in völligem Chaos untergegangen. Wer dieses Europa aufgrund einer Werthaltung verliess, wollte neu anfangen und hatte allen Grund dazu. Ein wichtiges Element des amerikanischen Gründungsmythos besteht darin, das Alte hinter sich zu lassen und neu zu beginnen. Die Grundform dieses Erlebnisses ist das Verlassen Europas und die Auswanderung nach Amerika, welche auch die bereits erwähnte religiöse Komponente beinhaltet. Kamen die Einwanderer am Anfang nur aus Europa, so erfolgt die Einwanderung heute aus der ganzen Welt. Unverändert geblieben ist aber die Attraktivität des Neubeginns, des Abstreifens von Altem und der Zuwendung zu etwas Neuem. Der israelische Soziologe Shmuel N. Eisenstadt, der als einer der ersten die europäische, die US-amerikanische und die japanische Moderne verglichen und ihre Divergenzen aufgezeigt hat, umschreibt es wörtlich so: «Der amerikanische Gründungsmythos (...) beschrieb Amerika als «neu und rein, als heilig» (3). Man wollte also nicht nur eine neue Welt, sondern man wollte vor allem auch eine bessere Welt aufbauen. Und das ist im nationalen Selbstverständnis bis heute so geblieben. Es gibt in diesem Selbstverständnis geradezu eine ganz einfache Gleichung, wonach «neu» immer besser ist, und wonach «alt» immer schlechter ist. Beim Diktum von Herrn Rumsfield zum alten und zum neuen Europa handelte es sich keineswegs um eine neue Erfindung, sondern es ist die Anwendung eines US-amerikanischen Grundmusters auf Europas Gegenwart.
Wenn wir nun die Frage stellen, wie Europa selber auf den eigenen Untergang und das damalige Chaos überstanden hat, wie also jene Menschen reagiert haben, die damals in Europa geblieben sind, dann eröffnet sich uns im transatlantischen Vergleich ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Entwicklungswege. Mit dem Datum 1648 erlebte Europa einen geistesgeschichtlichen Durchbruch, wie er in vergleichbarer Weise nur noch in der Zeit nach 1945 stattgefunden hat. Auf die Vergleichbarkeit der beiden Daten und dessen, was sie ausgelöst haben, werde ich noch zurückkommen. Einige Elemente des damaligen Zeitgeschehens habe ich bereits erwähnt: Westfälischer Frieden, Erfindung des Völkerrechtes, Aechtung der religiös oder moralisch begründeten Kriege, und vor allem auch die Säkularisierung der Religion, d.h. die Einbindung der Religion in eine übergeordnete staatliche Ordnung. Alle diese Neuerungen wären nie denkbar gewesen ohne die verheerende Katastrophe, die vorangegangen war. Die alles prägende Losung hiess gewissermassen «Nie wieder das selbe erleben!» . Durch das immense Leiden wuchs die Einsicht und auch die Bereitschaft, aus der Vergangenheit zu lernen. Es hiess also nicht, weglaufen und an einem anderen Ort neu beginnen, sondern es hiess bleiben und am alten Ort gescheiter werden. Das bedeutete für Europa auch, dass man bereit sein musste, die Vergangenheit weiter mit sich herumzutragen, die Erinnerung an das Leiden mit sich herumzutragen, und vor allem die Schuld an diesem Leiden mit sich herumzutragen. Der Bezugspunkt für den Entwicklungsschub liegt gleichsam in der Vergangenheit, der Fixpunkt ist das Alte, dessen Wiederholung es zu vermeiden gilt. Dies ist eine diametral andere Geisteshaltung als jene der Auswanderer in die neue Welt, für welche der Bezugspunkt für die Entwicklung immer in der Zukunft liegt, für welche der Fixpunkt immer das Neue ist, für das man das Bisherige, das Alte verlässt. Dabei – und das ist nicht unwichtig – wird auch das Leiden hinter sich gelassen, es wird vergessen. Und verdrängt wird auch die Schuldfrage, die man hinter sich lässt, indem man zu neuen Ufern aufbricht.
Ich erwähne zur Illustration den Gedanken der Nachhaltigkeit, der in Fragen der Oekologie eine grosse Rolle spielt, und der es in den Vereinigten Staaten offensichtlich viel schwieriger hat, Fuss zu fassen, als in Europa. Dieser Umstand ist auf den unterschiedlichen Umgang mit der Schuldfrage zurückzuführen. Wenn es die Schuldfrage gibt, dann stellt man sich in einem bestimmten Moment auch immer die Frage, ob das gegenwärtige Verhalten in Zukunft möglicherweise einmal als schuldhaft erscheinen könnte. Wenn es die Schuldfrage nicht gibt, dann verhält man sich viel unbekümmerter und ist nicht bereit, mögliche langfristige Konsequenzen überhaupt zu berücksichtigen. Soviel also zur Polarität zwischen «alt» und «neu» , welche sehr viel mehr zu den transatlantisch unterschiedlichen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen beiträgt, als man so gemeinhin annehmen möchte.
Eine zweite Polarität betrifft den Universalismus und das Gleichheitsgebot. Ein entscheidender Durchbruch des Westfälischen Friedens bestand nicht nur in der Begründung des Völkerrechts, sondern auch darin, dass die Souveränität der Mächte und ihre Gleichheit festgeschrieben wurde. Papst und Kaiser verloren ihre nur noch symbolische und längst bestrittene Universalstellung. Künftig sollte es auf die Staaten ankommen, und auf nichts anderes als das von ihnen vereinbarte Recht. Wohl gab es Unterschiede zwischen den grossen und den kleinen Staaten, indem als glaubwürdige Garantiemächte – also Staaten, welche die vereinbarte Friedensordnungen durchsetzen sollten – verständlicherweise nur die grösseren in Frage kamen. Aber das Prinzip der Gleichheit der Staaten und ihrer Souveränität war ein für allemal festgeschrieben worden, wie auch der Grundsatz, dass Recht nur in gegenseitigem Konsens aller Beteiligten geschaffen werden könne. Universalistische Vorstellungen hatte es auch schon früher gegeben, aber sie gingen immer einher mit der Existenz eines hegemonialen Grossreiches – wie zum Beispiel des römischen Reiches -, welches diesen Universalismus innerhalb seiner bestehenden oder angestrebten Grenzen selber zu garantieren versuchte. Der geistesgeschichtliche Durchbruch bestand also darin, dass man eine universell gültige Ordnung einrichtete, welche nicht mehr von einem alleinigen Akteur aufrecht erhalten wurde, sondern von vielen gemeinsam. Dies war einerseits nicht möglich ohne die Trennung von Recht und Moral: Alle Staaten sollten mitmachen, nicht nur jene, welche man als gut hätte qualifizieren können, und wer hätte diese Qualifikation schon vornehmen können. Vor allem aber war eine solche neuartige universelle Ordnung nicht möglich ohne die Erfindung der Gleichheit der Staaten. Universalismus und Gleichheit bedingen sich gegenseitig, sobald es keinen weltweiten Herrscher mehr gibt, wie seinerzeit den römischen Imperator oder später während kurzer Zeit Karl den Grossen. Uebrigens noch eine Klammerbemerkung: Die Uebertragung des Gleichheitsgedankens auf die einzelnen Individuen geschah erst 150 Jahre später in der Französischen Revolution. Aber auch in diesem späteren Schritt waren Universalismus und Gleichheit untrennbar miteinander verbunden. Menschenwürde und Menschenrechte wurden für universal erklärt, was die gleiche Menschenwürde aller Menschen implizierte.
Der Westfälische Friede leitete also auch diesbezüglich eine anderen Entwicklungsweg der Geistesgeschichte ein, als ihn später die Vereinigten Staaten gingen, was aber schon in der Zeit der ersten Auswanderung nach Amerika angelegt war. Wenn man etwas besser machen will als das bisher Bekannte, dann bleibt einem das Bisherige vor allem als Vergleichspunkt wichtig, also gleichsam im Wettbewerb. Ueber das europäische Sodom und Gomorra, dem die Auswanderer entflohen, um es besser zu machen, – und ich verwende hier bewusst diesen Vergleich aus der Bibel – liess der Herr ja nicht Schwefel und Feuer regnen. Europa existierte weiter. Und Europa wurde sich darüber klar, welches künftig die Grenzen des kriegerischen Wettbewerbs sein mussten, wenn der Schuld am dadurch in der Vergangenheit verursachten Leiden Rechnung getragen werden sollte. Der geistesgeschichtliche Durchbruch zur Vorstellung von der Gleichheit der Staaten, gefolgt vom späteren Durchbruch zur Vorstellung von der Gleichheit der Menschen, machte den Universalismus erst denkbar. Universalismus ist aber nicht möglich, wenn einige immer die Besseren sein wollen, und vor allem ist er nicht möglich, wenn sie es bleiben wollen. Universalismus lässt jeglichen Wettbewerb zu, und dies in den verschiedensten Bereichen. Aber der letzte oder oberste Masstab, in welchen der Wettbewerb eingebunden bleiben muss, ist die Gleichheit, die Gleichheit der Menschen, in ihrer gleichen Menschenwürde, und die Gleichheit der Staaten. Die beiden Pole dieser zweiten transatlantischen Polarität, welche ebenfalls sehr viel mehr zu den transatlantisch unterschiedlichen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen beiträgt, als man so gemeinhin annehmen möchte, kann ich deshalb folgendermassen charakterisieren: Ein universalistisches Weltbild steht einem Weltbild gegenüber, welches ich «Weltbild des Besseren» nenne.
Was ich eben ausgeführt habe, ist keine ökonomische Kategorie, sondern eine geistesgeschichtliche oder – wenn Sie wollen – eine philosophische, obwohl ich mit diesem letzteren Wort sehr zurückhaltend bin, weil es unversehens in die Nähe des Weltfremden oder der Ohnmacht gerückt werden kann. Dazu möchte ich ein Beispiel nennen: Wenn man das unterschiedliche Staats- und Gesellschaftsverständnis in Europa und den Vereinigten Staaten anspricht, dann kommen fast alle Leute immer sogleich auf den Sozialstaat zu sprechen, der in Europa ohne Zweifel weiterexistieren wird – wenn auch in modifizierter Form -, und der in den Vereinigten Staaten nie so gewollt war und sich dort auch nie nach europäischem Muster etablieren wird. Fast immer wird dieser Unterschied auf wirtschaftspolitische, allenfalls auf wirtschaftsphilosophische Unterschiede zurückgeführt, was immer man auch unter Wirtschaftsphilosophie verstehen mag. Ich bin überzeugt, dass diese Erklärungen zu kurz greifen. Der unterschiedliche Umgang mit der Sozialstaatlichkeit geht auf ein unterschiedliches Weltbild zurück, welches angelegt ist in der transatlantischen Weggabelung von 1648, und welches in Europa ein Gleichgewicht anstrebt zwischen Wettbewerb und Gleichheit, während jenseits des Atlantiks das Element des Wettbewerbs ungleich viel höher gewichtet wird als jenes der Gleichheit. Und beides bezieht sich sowohl auf die Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen als auch auf die Beziehungen zwischen den Staaten. Es ist die Polarität zwischen einem universalistischen Weltbild und einem «Weltbild des Besseren» . In dieser Polarität kommt übrigens auch ein unterschiedlicher Umgang mit dem Bösen zum Ausdruck, wie ich ihn bereits im Zusammenhang mit dem Völkerrecht erwähnt habe. Wenn das Bessere einmal die ganze Welt von sich hat überzeugen können (gewaltlos oder – wie wir haben lernen müssen – notfalls unter Inkaufnahme von etwelchen Kollateralschäden), dann ist das Böse endlich vernichtet und der Endzustand erreicht. Europa ist demgegenüber gleichsam dazu verdammt, auch das Böse zu integrieren zu versuchen. Das augenscheinlichste Bild für diese unterschiedliche Weltsicht bietet die Todesstrafe, welche in Europa verboten ist, in den Vereinigten Staaten aber wohl kaum jemals abgeschafft werden kann, weil die US-amerikanische Gesellschaft jedenfalls in ihrer Mehrheit das Böse von Zeit zu Zeit auch physisch vernichtet sehen will.
Erlauben Sie noch eine mir sehr wichtige Klarstellung im Zusammenhang mit den beiden Polaritäten, die ich erläutert habe. In den Vereinigten Staaten hat es immer zwei Denkrichtungen gegeben, eine geistesgeschichtlich durch die europäische Linie inspirierte und eine geistesgeschichtlich durch die US-amerikanische Linie inspirierte. Gerade zur Zeit beobachten wir in den Primärwahlen der demokratischen Partei ja so etwas wie einen «Aufschrei des alten Europa» in den Vereinigten Staaten selber. Zu gewissen Zeiten dominierte eher die eine Linie, zu gewissen Zeiten die andere, und innerhalb des riesigen Gebietes dieser Nation können die Schwergewichte auch geografisch zugeordnet werden, indem sich die europäisch inspirierte Linie eher in den Küstengebieten und im Norden manifestiert. Gerade der Aufschrei gegen den amtierenden US-Präsidenten, der jetzt durch die demokratische Partei geht, zeigt ja, dass dieses Land gespalten ist und dass es vielen Leuten nicht gefällt, in welche Richtung der gegenwärtige Präsident das Ansehen der Vereinigten Staaten gesteuert hat. Wir sollten die Vereinigten Staaten jedoch nicht mit europäischen Massstäben messen, was die Veränderungsmöglichkeiten durch die Politik anbelangt. Ich glaube, dass die erwähnten jahrhundertealten Prägungen und Verschiedenheiten sehr tief gehen. Meine Erfahrungen aus meiner Zeit in Sarajevo datieren vollumfänglich aus der Zeit des vorangehenden Präsidenten, der ja wohl nicht als religionsorientiert gelten darf oder besonders ausgerichtet auf eine moralische Argumentation. Trotzdem waren viele Elemente, welche auf die beiden erwähnten Polaritäten zurückgehen, auch in jener Zeit ausgeprägt zu erleben.
Dazu noch etwas Persönliches, das sich auf den Untertitel meines Referates bezieht. Das unterschiedliche Staats-, Rechts- und Gesellschaftsverständnis, wie ich es in Bosnien erlebte, war für mich relativ neu. Wohl hatte ich natürlich um die unterschiedliche Gewichtung des Sozialstaates gewusst, aber im übrigen war ich ein Kind des Kalten Krieges. Ich hatte natürlich im Sinn, der Bosnischen Bevölkerung europäische Antworten zu geben. Und je klarer ich dies bewusst so hielt, desto klarer begann ich zu spüren, dass da auch noch ganz andere Sichtweisen den meinen – oder jenen meiner Institution – entgegenstanden. Solange ich die Verhältnisse nicht rational zu analysieren begann, reagierte ich emotional auf diese Ungereimtheiten. Mit zunehmender Beobachtung und zunehmedem Wissen reagiert ich nicht mehr emotional, weil ich nun wusste worum es ging. Und dies ist auch der Grund, warum ich später die Dinge schriftlich festgehalten habe, um es nämlich anderen zu ermöglichen, etwas rascher von der emotionalen zur rationalen Reaktionsweise überzugehen, welche im transatlantischen Dialog viel hilfreicher ist.
Damit bin ich bereits mitten im dritten Begriff im Titel meines Referates. Den Amerikanismus habe ich umschrieben mit der Notwendigkeit, dass man sich zur US-Nation bekennt. Den US-amerikanischen Antieuropäismus habe ich durch die beiden Polaritäten charakterisiert. Ich möchte nun behaupten, dass es sich bei einem Teil dessen, was uns als Antiamerikanismus erscheint, gar nicht um das handelt, sondern um ein Festhalten an den europäischen Werten in diesen Polaritäten. Solange es emotional geschieht, erscheint es sogar uns selber als antiamerikanisch. Haben wir die Situation aber einmal rational analysiert, so merken wir effektiv, dass es sich einfach um eine Art Europäismus handelt. Dieser vierte Begriff fehlt aber ganz bewusst im Titel meines Referates, denn Europäismus in dem Sinne, wie ich Amerikanismus umschrieben habe, gibt es gar nicht. Europäische Nationen begründen sich staatspolitisch, sie brauchen keine Bekenntnisse zu ihnen. Beziehungsweise – und um Klartext zu reden: Wenn in Europa das Bekenntniswesen zur Nation losgetreten wird, dann wir es gefährlich. Das wissen wir aus dem Zweiten Weltkrieg, und wir wissen es wieder neu aus den Balkankriegen. Daraus ergibt sich eigentlich schon fast die ganze Problematik des Antiamerikanismus, oder ich müsste von hier weg vielleicht sagen des «sogenannten» Antiamerikanismus. Die US-amerikanische Nation verlangt das Bekenntnis zu ihr, nicht nur von den eigenen Bürgern, sondern wenn möglich auch von jenen der mit ihr befreundeten Nationen oder überhaupt von allen Menschen, die sich dem «Guten» verpflichtet fühlen. Europa weiss um die grundsätzliche Gefährlichkeit dieses Bekenntniswesens. Wer das Bekenntnis zur US-amerikanischen Nation nicht ablegt, gilt bei jenen, die es abgelegt haben, in der Tendenz als antiamerikanisch. Für jene, die es nicht ablegen wollen, geht es lediglich um die Treue zur europäischen Ideengeschichte.
Und dazu nun noch eine letzte Klarstellung: Es gibt durchaus Antiamerikanismus, der sich rein nationalistisch begründet. Solche Aeusserungen sind klar abzulehnen, weil sie nationalistisch sind oder gar rassistisch begründet werden. Leider sind uns solche Äusserungen nur zu bekannt aus islamistisch fundamentalistischen Kreisen. Auch in Europa müssen wir diesen Dingen bewusst entgegentreten. Wenn ich hier eine andere gedankliche Linie skizziert habe, wie das Phänomen auch noch entstehen kann, welches man gemeinhin als Antiamerikanismus bezeichnet, so deshalb, weil ich überzeugt bin, dass man in der Beurteilung dieser Erscheinung sehr differenziert vorgehen sollte. Vor allem aus einer europäischen Perspektive ist dies äusserst wichtig, wenn eine nachhaltige Entwicklung der Europäischen Union im Sinne einer europäischen Friedensordnung nicht gefährdet werden soll. Und auf diesen letzten Punkt möchte ich nun noch etwas vertiefter eingehen.
Den geistesgeschichtlichen Durchbruch Europas um 1648 habe ich etwas eingehender erläutert. Das Muster von 1648 erfährt heute seine Wiederholung, seit 1945 in Westeuropa, und mit der Osterweiterung der Europäischen Union zunehmen auf dem ganzen Kontinent. Konkret spielt sich das dadurch ab, dass die Nationen eingebunden werden in eine übergeordnete rechtliche Struktur. Im Rahmen der Europäischen Union entsteht nicht nur Völkerrecht, sondern es entsteht in einem nächsten Schritt nun auch supranationales Recht. Aber die zugrundeliegende Philosophie ist die selbe wie 1648. Deshalb spreche ich nicht nur von der Säkularisierung der Religion, welche in Europa 1648 stattfand, sondern ich spreche auch von der Säkularisierung der Nation, die seit 1945 in Europa stattfindet. Zwischen Nationalismus und gewaltorientierter Religionsausübung gibt es nicht nur Parallelen in der Form der Riten und Zelebrationen, sondern auch dem Nationalismus liegt immer die Vorstellung des Auserwähltseins zugrunde, dasselbe also wie den Religionen vor ihrer Säkularisierung. Deshalb war es auch möglich, dass es nach der erfolgreichen Säkularisierung der Religion in Europa nochmals zu derart zerstörerischen Kriegen kommen konnte, in welchen die Nationen die Rolle übernahmen, welche vor 1648 die Religionen gespielt hatten. So gesehen könnte man sagen, der westfälische Frieden habe erst nach 1945 seine effektive Umsetzung erfahren. Einen Gedanken in ähnlicher Richtung hat kürzlich Ulrich Beck geäussert, indem er einen Vergleich zog zwischen der Trennung von Staat und Religion im westfälischen Frieden und einer Trennung von Staat und Nation, die in einem kosmopolitischen Europa eine Antwort sein könne auf die Welt(bürger)kriege des 20.Jahrhunderts (4). Kosmopolitisch ist wohlverstanden ein Synonym für universalistisch (5).
Was ich eben bezeichnet habe als die Säkularisierung der Nation in Europa wäre nie denkbar gewesen ohne die verheerende Katastrophe des zweiten Weltkrieges. Ein zweites mal hiess die alles prägende Losung «Nie wieder das selbe erleben!» . Durch das immense Leiden wuchs ein zweites mal die Einsicht und auch die Bereitschaft, aus der Vergangenheit zu lernen. Wieder musste man bereit sein, die Vergangenheit weiter mit sich herumzutragen, die Erinnerung an das Leiden mit sich herumzutragen, und vor allem die Schuld an diesem Leiden mit sich herumzutragen. Wieder liegt also der Bezugspunkt für den Durchbruch in der Vergangenheit, der Fixpunkt ist das Alte, dessen Wiederholung es zu vermeiden gilt. Noch viel klarer als dreihundert Jahre früher kommen die beiden aufeinander bezogenen Grundsätze der Universalität und der Gleichheit zum Tragen, die Gleichheit zwischen den europäischen Staaten und die Gleichheit der Würde aller Menschen, welche in den Durchsetzungsmechanismen der Europäischen Menschenrechtskonvention ihren weltweit leider noch einzigartigen Niederschlag gefunden haben.
Während des Kalten Krieges konnte noch kaum wahrgenommen werden, dass sich die ideengeschichtlich bedingten, transatlantischen Polaritäten durch diese Entwicklung akzentuierten. Heute wird es nun zunehmend einsichtig, dass die Europäischen Union und ihre Philosophie als Friedensprojekt nur schon durch ihre reine Existenz zur Zuspitzung des transatlantischen Gegensatzes beiträgt. Die Gründe dafür will ich nicht wiederholen. Jedenfalls hat dies überhaupt nichts zu tun mit der gegenwärtigen Präsidentschaft der Vereinigten Staaten, die Begründung liegt viel tiefer. Wir Europäerinnen und Europäer sind heute mit einer gewaltigen Herausforderung konfrontiert. Diese Herausforderung hat ihre Wurzeln in den Jahren 1648 und erneuert in 1945, in der Säkularisierung der Religion und in der Säkularisierung der Nation. Ich habe es bereits formuliert: Säkularisierung heisst Einbindung in eine übergeordnete staatliche Ordnung, wobei staatlich auch international oder supranational bedeuten kann. Was bedeutet dies im Zusammenhang mit dem Phänomen, welches gemeinhin als Antiamerikanismus bezeichnet wird ?
Wir müssen miteinander reden, wir Europäerinnen und Europäer müssen vor allem mit jenen US-Amerikanerinnen und -Amerikanern reden, welche bereit sind, sich auf diesen transatlantischen Dialog einzulassen. Aber – und dies ist sehr wichtig: Wir sollten bereit sein, die Dinge rational zu analysieren. Emotionale Kategorien führen aus der europäischen Sicht nicht weiter. Und warum das? Ich kann nur an das bereits Gesagte anknüpfen: Es liegt daran, dass in der europäischen Philosophie Bekenntniskategorien nicht weiterführen. Europa hat das religiös bedingte öffentliche Bekenntnis 1648 abgeschafft, weil es zu unverantwortbaren Verwüstungen geführt hatte. Nach 1945 hat Europa das national bedingte öffentliche Bekenntnis abgeschafft, weil es auch zu unverantwortbaren Verwüstungen gefährt hatte. Europa ist nicht nur der Kontinent der Freiheit vom Bekenntniszwang, sondern es ist geradezu der Kontinent der Bekenntnisverweigerung geworden, und zwar einer friedenspolitisch motivierten Bekenntnisverweigerung! Das ist gut so, denn alles andere würde wieder ins Verderben führen. Aber: Genau dies ist der tiefste Grund für das Phänomen des sogenannten Antiamerikanismus. Die Vereinigten Staaten basieren geradezu auf dem öffentlichen Bekenntniswesen, Bekenntnis zur Nation, Bekenntnis zum Guten, Bekenntnis zum Erhabenen, Bekenntnis zum Besseren und Bekenntnis zum Neuen.
Antieuropäismus und Antiamerikanismus sind über weite Strecken bedingt durch das unterschiedliche Verhältnis zum Bekenntniswesen, also durch den unterschiedlichen Umgang damit. Dem Ur-Amerikaner – oder wenn man so will der «ur-amerikanischen Seele» – ist ein nicht-bekennender Mensch zutiefst verdächtig, weil man nicht weiss, mit wem man es zu tun hat. In einer reinen Einwanderungsgesellschaft, in welcher man immer wieder mit Neuankömmlingen konfrontiert wird, ist es verständlicherweise sehr wichtig, dass sich diese Neuankömmlinge möglichst rasch selber deklarieren und zu erkennen geben. Umgekehrt ist dem Ur-Europäer – oder wennman so will der «ur-europäischen Seele» – ein bekennender Mensch zutiefst verdächtig, aus Gründen, die ich erläutert habe. Das ist so, und das muss auch so bleiben. Beide, Europa und die Vereinigten Staaten können ihre historisch gewachsene Sicht nicht ablegen, und sie sollen sie auch nicht ablegen. Deshalb ist es möglicherweise im transatlantischen Dialog auch wichtig darüber zu reden, was diesseits und jenseits des Atlantiks das Bekenntiswesen bedeutet, was die Polarität zwischen «alt» und «neu» bedeutet, und was jene zwischen einem universalistischen und einem Weltbild des Besseren. Hier – in diesen Kategorien – gilt es weiterzudenken. Weiterdenken bedeutet Rationalität, und nicht Emotion.
*) Referat im Rahmen der internationalen Tagung «Die Amerikanisierung der (west-)deutschen Kultur seit 1945» vom 4. bis 6. März 2004 im Kulturwissenschaftlichen Institut NRW, Essen
1) Ernest Gellner, Postmodernism, reason and religion, London 1992, S. 5
2) Rainer Prätorius, In God We Trust. Religion und Politik in den USA, München 2003, S. 62
3) Shmuel N.Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, Wilerwist 2000, S. 59
4) «Die Zeit» vom 10.Juli 2003
5) Allerdings ist zu präzisieren, dass Beck den Kosmopolitismus vom Universalismus abgrenzt, wobei er den ersteren versteht als eine ethnozentrische Sicht des Westens, die eine Gleichwertigkeit des «Anderen» nur dann akzeptieren könne, wenn dieses Andere sich letztlich angleichen lasse. (Ulrich Beck, Verwurzelter Kosmopolitismus: Entwicklung eines Konzepts aus rivalisierenden Begriffsoppositionen, in ders., Natan Sznaider, Rainer Winter (Hg.), Globales Amerika ? Die kulturellen Folgen der Globalisierung, Bielefeld 2003, S. 36 f.) Wenn ich den Gegenpol zum «Weltbild des Besseren» hier dennoch als «universalistisches Weltbild» bezeichne, so orientiere ich mich an den Menschenrechten, die Universalität beanspruchen, ohne eine solche Angleichung der «anderen» Menschen zu verlangen. Gleichheit aller Menschen wird durch das Prinzip der Universalität der Menschenrechte nur insofern postuliert, als ihnen allen die Menschenrechte unverzichtbar zustehen. Im Rahmen dieser Randbedingung sollen Menschen durchaus unterschiedliche Kulturen leben können, mit verschiedenen kulturellen, religiösen und nationalen Identitäten, um nur einige offensichtliche Ungleichheiten zu nennen. Aus diesem Grunde verwende ich den Begriff des Universalismus für das, was Beck als Kosmopolitismus bezeichnet.