Zum unterschiedlichen Verständnis von Staat und Nation dies- und jenseits des Atlantiks
In einer Hinsicht werden sich meine Ausführungen nicht ganz in den Titel der heutigen Tagung einfügen lassen, der da lautet «Die USA-Innenansichten einer Weltmacht» : Worüber ich reden kann, das sind nicht die Innenansichten dieser Nation, sondern ich habe meine Erfahrungen mit der US-amerikanischen Aussenpolitik in Europa – im Balkan – gemacht, und ich gehe davon aus, wie sich diese Politik auf Europa und auf die Welt auswirkt. Insoweit die Vereinigten Staaten als Nation und Europa als Staatengemeinschaft von einer verschiedene Weltsicht ausgehen, werde ich heute einige Unterschiede ansprechen. Für Europa kann das auch eine Innenansicht sein, den ich bin Europäerin. Für die Vereinigten Staaten kann es nur eine Analyse von aussen sein. Diese Analyse betrifft zwar auch die Hintergründe des US-amerikanischen Verhaltens, aber ganz bewusst aus europäischer Sicht. Ich halte dieses Vorgehen und diesen Blickwinkel nicht nur für legitim, sondern in der heutigen Zeit sogar für politisch äusserst wichtig.
Und damit bin ich bei einer zweiten einleitenden Klarstellungen: Ich rede nicht über einzelne US-Amerikanerinnen und Amerikaner, genauso wie ich nicht über einzelne Europäerinnen und Europäer rede. Den Idealtypus «Europäer» oder «US-Amerikaner» gibt es nicht. Es werden sich immer zahllose US-Amerikanerinnen und Amerikaner finden lassen, welche viel «europäischer» sind als viele Europäerinnen und Europäer. Und es werden sich zahllose Europäerinnen und Europäer finden lassen, welche viel «amerikanischer» sind als manche Amerikanerinnen und Amerikaner. Freiheitliche Gesellschaften – und das sind beide, diesseits und jenseits des Atlantiks – zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass der oder die Einzelne seine oder ihre Identität frei wählt. Was ich thematisieren werde ist der gesellschaftliche Rückhalt, der den Individuen in ihrer freigewählten Identität angeboten wird, und in welchem die transatlantischen Unterschiede spürbar sind. Es dürfte unbestritten sein, dass sich dieser gesellschaftliche Rückhalt auf das kollektive Selbstverständnis auch dann auswirkt, wenn einzelne Individuen diesen Rückhalt gar nicht benötigen oder sich bewusst von ihm abgrenzen. Er ist sogar dann wirksam, wenn eine Gesellschaft sehr individualistisch funktioniert und es deshalb geradezu zum guten Ton gehört, sich von diesem Rückhalt abzugrenzen. Dies ist insbesondere in Krisenzeiten oder in sonstwie bedingter kollektiver Regression auf vertraute Werte der Fall, wie sie weltweit nach dem 11.September 2001 in verschiedenen Kulturkreisen hat beobachtet werden können.
Die dritte und letzte einleitende Klarstellungen ist nur formal und betrifft den Begriff «jenseits des Atlantiks» im Titel des Referates. Mit «transatlantisch» ist ausschliesslich das Verhältnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten gemeint, der Begriff nimmt also nicht Bezug auf andere Staaten jenseits des Atlantiks. Insbesondere Kanada ist in vielen Belangen viel europäischer als die USA, ein Thema, welches von Kanadierinnen und Kanadiern oft angesprochen wird. Diese üben oft und mit Recht Kritik daran, dass US-Amerikanerinnen und Amerikaner nur die Vereinigten Staaten meinen, wenn sie «America» sagen, und nie den ganzen nordamerikanischen Kontinent, geschweige denn den Doppelkontinent, der diesen Namen trägt. Im Zusammenhang mit dem von mir behandelten Thema müsste Kanada übrigens oft eher zu Europa gerechnet werden.
Recht, Demokratie und Politik
Nun möchte ich mit einigen Kurzformeln die transatlantischen Unterschieden im Bereich von Recht, Demokratie und Politik umschreiben.In Europa besteht demokratische Identität in der Wahl der Parlamente, zu der man in der Eigenschaft als Teil des Volkssouveräns berechtigt ist. US-Amerikaner erleben demokratische Identität viel weniger in diesem Bereich, sondern darin, Rechte zu haben, auf die man sich jederzeit gerne beruft, und die man als Einzelperson oder Vertretung eines Minderheitsinteresses vor Gericht einklagen kann. So erhält das Recht und die Justiz in den Vereinigten Staaten eine ganz andere Funktion als in Europa, nämlich eine politische. Eigentlich haben die US-amerikanischen Verfassungsväter eine Form der Demokratie geschaffen, die auch funktioniert, nachdem der Staat weitgehend in der Gesellschaft aufgegangen ist. Diese funktioniert ganz anders als die europäisch verstandene Demokratie. Das entscheidende an dieser Erfindung besteht darin, dass keine der politische Gewalten beanspruchen kann, den Volkswillen zu verkörpern und in seinem Namen Massnahmen durchzusetzen. Ich werde darauf zurückkommen. Fürs erste fasse ich das US-amerikanischen Demokratieverständnis mit einem Zitat von Dick Howard zusammen, er ist in den Vereinigten Staaten Professor für politische Philosophie. Er sagt, US-Demokratie verstehe Politik «als einen Kampf um das Recht und um Rechte» .
In Europa bedeutet Politik unter anderem, dass in den politischen Instanzen, insbesondere in den Parlamenten um die Gesetzgebung gestritten wird, und die so entstandene Rechtsordnung wird dem Staat anvertraut. In den Vereinigten Staaten wird um Rechte gestritten, und der Staat schafft dafür nur den äusseren Rahmen. Wenn in den Vereinigten Staaten die Auseinandersetzung um die Verteilung von Macht direkt – horizontal – in der Gesellschaft zwischen den Privaten stattfindet, und nur zu einem kleineren Teil im Parlament, so deshalb, weil den Gründern dieser Nation die Vorstellung eines vernünftigen Gemeinwillens fremd war, der in Europa der Staatsbildung zugrundeliegt. Sie wollten eine möglichst staatsfreie Gesellschaft, in welcher die Machtverteilung zwischen Privaten oder allenfalls Minderheitsgruppen ausgehandelt wird, um Mehrheiten zu vermeiden, welche die Legitimation hätten beanspruchen können, den Staat zu stärken. Ich nenne hier ein Beispiel für das unterschiedliche Rechtsverständnis: Schädliche Produkte werden in Europa durch Gesetze verboten, und zwar möglichst bevor ein Schaden eintritt. In den Vereinigten Staaten werden solche Produkte viel seltener verboten, aber der Produzent wird von den Geschädigten eingeklagt, nachdem der Schaden eingetreten ist. Deshalb sind «Sammelklagen» jenseits des Atlantiks durchaus sinnvoll, aber sie stellen im Grunde genommen gar nicht ein rechtliches Instrument sondern dar, sondern sie sind eine Form der Politik. Sie ersetzen das, was in Europa durch politische Parteien in die parlamentarische Auseinandersetzung eingebracht wird, wenn es darum geht, Missstände zu beheben oder die Rechte benachteiligter Mitmenschen zu verbessern.
Staat und Staatlichkeit
Nun muss ich auf die transatlantischen Unterschieden im Staatsverständnis zu sprechen kommen, denn diese bilden letztlich die Grundlage für alle andern Unterschiede. Hier ist es unerlässlich, in die Geschichte zurückzublenden und auch die Religion anzusprechen. Wie sich Religion in den USA entwickelt hat, ist uns im Referat von gestern dargelegt worden. Hier geht es nun darum, aufzuzeigen, wie sich dies auf Staat und Nation ausgewirkt hat. Genau besehen sind die Vereinigten Staaten als Antithese zu Europa entstanden. Der Machtkampf zwischen Kirche und Staat, welcher Europa während Jahrhunderten dominiert hatte, war am Ende des Mittelalters zugunsten des Staates ausgegangen. Nach den Religionskriegen hatte man im 17.Jahrhundert die Religion definitiv dem Staat unterstellt sowie durch den westfälischen Frieden 1648 die Grundlage einer völkerrechtlichen Ordnung zwischen den Staaten geschaffen. Damals begann die Auswanderung nach Amerika. Viele Auswanderer wählten den Weg über den Atlantik aus wirtschaftlicher Not oder aus Abenteuerlust oder aus einer Kombination von beidem. Längst nicht alle hatten eine klare Haltung in Sachen Religion und Staat. Wer aber überhaupt eine weltanschauliche Motivation hatte, wollte genau diese neue Rangordnung zwischen Staat und Religion nicht anerkennen. Dies trifft insbesondere auf die puritanischen Pilgerväter zu, welche die Vereinigten Staaten mehr als alle anderen prägen sollten. Ausgehend von der Idee des auserwählten Volkes Gottes wollten sie eine neue, reine Gesellschaft aufbauen, und die religiösen Gemeinschaften verstanden sich selber als eine öffentliche Ordnungsstruktur, die selber gar keinen Staat brauchte und später jede staatliche Einmischung ablehnte. So kam es zu der strikten Trennung von Kirche und Staat jenseits des Atlantiks, die heute noch besteht. Sie hatte nie den Sinn, den Staat vor der Religion zu schützen, wie das für Europa gilt. Es geht im Gegenteil darum, die Religion vor dem Staat zu schützen. Und daraus folgt ein rigoroser Staatsminimalismus, der bis heute in den Vereinigten Staaten strikte gehandhabten und immer wieder erneuert wird.
Diese transatlantische Differenz kann mit den unterschiedlichen Vorstellungen über gesellschaftliche Zugehörigkeit erklärt werden. In Europa gehört der Einzelne nur schon deshalb zur Gesellschaft, weil er überhaupt existiert. Die Zugehörigkeit zur US-amerikanischen Gesellschaft beruht hingegen darauf, dass man sich aktiv um sie bemühen muss, wobei der Akt des «Bekenntnisses» eine wichtige Rolle spielt. Die US-Gesellschaft basiert praktisch ausschliesslich auf Einwanderung, und der Akt der Einwanderung bedeutet auch heute noch ein erstes und grundlegendes Bekenntnis zum «American way of life» . Mit dem Beitritt zu einem Verein oder Club, durch das Mitwirken in gemeinschaftlichen Aktivitäten bezeugen US-Amerikaner ihr Einverständnis mit den entsprechenden Zielen. Diese Aktivitäten werden als «freiwillig» bezeichnet. Der Begriff «freiwillig» wird in den Vereinigten Staaten als Gegenbegriff zu «staatlich» verwendet, was für Europa überhaupt keinen Sinn macht, denn in unserem Sprachgebraucht ist «freiwillig» der Gegenbegriff zu «obligatorisch» . «Staatlich» und «obligatorisch» bedeuten aber für die europäische Staatsphilosophie überhaupt nicht dasselbe.
Dass die alleinige Existenz jenseits des Atlantiks noch keine Zugehörigkeit zur Folge hat, ist durchaus so gewollt, denn in den Vereinigten Staaten will man keine Verantwortung für Umstände oder Personen übernehmen, zu denen man sich nicht «freiwillig» bekannt hat. So gesehen können transatlantisch auch die beiden Begriffe «Zugehörigkeit durch Existenz» für Europa und «Zugehörigkeit durch Bekenntnis» für die Vereinigten Staaten gegenübergestellt werden. Europäeerinnen und Europäer haben eine staatspolitische Identität. Diese Identität nach europäischem Muster bedarf keiner Bekenntnisse, denn die Staatlichkeit existiert als eine eigene Dimension, die etwas Drittes darstellt, und die über die rein horizontalen Beziehungen zwischen den Individuen hinausgeht. Die relativ «staatslose» Gesellschaft jenseits des Atlantiks kennt nur den horizontalen Gesellschaftsvertrag, der diese dritte Dimension nicht aufweist – er stellt nichts «Drittes» dar, das über die horizontale Beziehung zwischen den Individuen hinausgeht. Aus diesem Grunde verfügen US-Amerikaner praktisch nicht über staatspolitische Identität nach europäischem Muster. Ulrich Preuß, Professor für öffentliches Recht und Politik in Berlin, hat den Unterschied zwischen Staatlichkeit und dem US-amerikanischen horizontalen Gesellschaftsvertrag sehr einleuchtend dargestellt, und zwar in einer 1990 erschienen Publikation zur deutschen Verfassungsdiskussion. Mangels der erwähnten dritten Dimension ist die US-amerikanische Gesellschaft auf das immer wieder erneuerte Zugehörigkeitsbekenntnis angewiesen. Die Unverzichtbarkeit dieser Bekenntnisse hat sich nach dem 11.September 2001 überdeutlich gezeigt, sie liefen unter dem Stichwort «Patriotismus.» Es hat sich aber auch gezeigt, dass mit diesem Verfahren notwendigerweise auch der Ausschluss der Nicht-Bekennenden verbunden ist. Die dritte Dimension, welche in Europa die Staatlichkeit ausmacht, ist in den USA durch die Religion besetzt. Wie es dazu gekommen ist, wurde uns im gestrigen Referat dargelegt. Und ich möchte hier noch eine Randbemerkung anbringen, die mir sehr wichtig ist: Der transatlantische Unterschiede in der Zugehörigkeit ist nicht etwa darauf zurückzuführen, dass sich die Marktwirtschaft in Westeuropa jedenfalls bisher als eine «soziale» verstanden hat und dass in den Vereinigten Staaten auf diese Adjektiv bewusst verzichtet wird, sondern umgekehrt basieren die ökonomischen Verhältnisse auf diesem viel grundlegenderen Selbstverständnis, abgestützt letztlich auf philosophische Kriterien, die tiefer und weit über den wirtschaftlichen Bereich hinausgehen.
Die Nation
Nachdem ich das unterschiedliche Staatsverständnis angesprochen habe, komme ich nun zum unterschiedlichen Verständnis der Nation. Hier ist vorweg zu erwähnen, dass die Nation in Europa während etwa zweihundert Jahren in gewisser Weise an die Stelle der Religion getreten ist. Die Religion hatte man wie bereits erwähnt im 17.Jahrhundert der Staatlichkeit unterworfen, wodurch sie als kriegsauslösendes Element gebannt wurde. Kriege fanden nach diesem Zeitpunkt nicht mehr zwischen den Religionen, sondern zwischen den Nationen statt, aber die kriegsauslösenden Mechanismen waren durchaus vergleichbar. Die «Nation» war durch die Romantik ursprünglich als ein rein kulturelles Phänomen erfunden worden, und zwar als Reaktion auf die als zu intellektuell empfundene Aufklärung. Die Aufklärung ging hauptsächlich von drei Prämissen aus, von der Vernunft, vom Universalimus und vom Individualismus. Anstelle der Vernunft wurde in der Romantik die Emotion betont, anstelle der universalen Betrachtungsweise das Kleinräumige, das Besondere, die kulturelle Eigenart, und anstelle des Individuums die Gruppe. Diese drei romantischen Gegenwerte zur Aufklärung fanden im ursprünglich rein kulturell gedachten Begriff der Nation ihren Niederschlag. Für die abstrakten, aufklärerischen Ideen des Republikanismus brauchte die französischen Revolution nun aber ein identitätsstiftendes Gefäss. Der König, der als staatliche Identifikationsfigur ("L'Etat c'est moi» ) gedient hatte, war ja abgesetzt worden war. In Frankreich wurde deshalb das kulturelle Phänomen der Nation in ein politisches umwandelte, das nun plötzlich zur Bildung von «Nationalstaaten» beitrug. Die längst als Staaten formierten Länder Westeuropas – England, Frankreich, Spanien – wurden so in die Form staatspolitisch verstandener Nationen gegossen. Andere westeuropäische Nationalstaaten fanden erst später zu dieser Form.
Etwas ganz anderes geschah in Amerika: Zwar wurde formal ein Nationalstaat gegründet. Aber aufgrund des von allem Anfang an umgekehrten Verhältnisses zwischen Staat und Religion lag das Fundament der nationalen Gefühle nicht im staatspolitischen Bereich, sondern im religiösen. Dieser transatlantische Unterschied ist bis heute wirksam, wobei sich religiöse Vorstellungen heute auch und vor allem in moralischen Kategorien manifestieren. Europäische Nationen begründen sich staatspolitisch. Die US-amerikanische Nation begründet sich religiös und moralisch. Im Verständnis dieser Nation spielte das «Gute» , für das diese Nation steht, von allem Anfang an eine zentrale und religiös begründete Rolle. Wenn es das «Gute» gibt, muss es aber auch das «Böse» geben. Nach aussen wird das Böse immer wieder mit Personen und Staaten identifiziert, und dies auch schon lange bevor die «Achse des Bösen» erfunden worden ist. Nach innen werden «böse» Menschen ausgegrenzt, gesellschaftliche Zugehörigkeit erlangt man nur durch das Bekenntnis zum «Guten» . Hier liegt ein weiterer Grund für die Inkompatibilität von «existentieller Zugehörigkeit» nach europäischem Muster mit der US-amerikanischen nationalen Identität. Ich komme hier nicht darum herum, von der Moral zu sprechen, die im folgenden Referat thematisiert werden wird. Ich beschränke mich jedoch bewusst auf jene Aspekte, in welchen die Moral mit dem Thema meines Referates zusammenhängt. Von der moralische Begründung der Nation war eben die Rede. Will man die transatlantischen Unterschiede besser verstehen, muss man aber auch auf das Verhältnis zwischen der Moral und dem Recht eingehen.
Völkerrecht und Souveränitätsverzicht
Dieses Verhältnis will ich erläutern, indem ich direkt auf den Kerngehalt der gegenwärtig eskalierenden Auseinandersetzung zwischen Europa und den USA zu sprechen komme. Diese Auseinandersetzung betrifft ganz zentral die Bedeutung von zwei Dingen, nämlich des Völkerrechts und des Souveränitätsverzichtes, beides alte europäische Errungenschaften. Der Souveränitätsverzicht der Staaten zugunsten einer völkerrechtlichen Ordnung wurde in Europa wie bereits erwähnt im westfälischen Frieden 1648 erfunden. Und seit der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts ist auf diesem Kontinent sogar etwas noch viel spektakuläreres im Gange: Zum ersten mal findet ein Prozess statt, der zu einer bisher tauglichen Friedensordnung führt, und zwar aufgrund des Souveränitätsverzichtes von Staaten, und nicht – wie früher – als Resultat von Kriegen, d.h. mittels Anordnungen der siegreichen Kriegspartei. Die Unterordnung der Macht unter das Recht hat sich in der Europäischen Union zum ersten mal institutionalisiert und bildet letztlich das Fundament der europäischen Integration. Das ist nicht nur in Europa einmalig, das hat es in dieser Form und in diesem Ausmass in der Geschichte auf diesem Planeten noch nie gegeben. Wir müssen uns aber im klaren sein, dass es ohne die historischen Gegebenheiten nicht so weit gekommen wäre. Den westfälischen Frieden hätte es nicht gegeben ohne den dreissigjährigen Krieg, der zu totalem Zusammenbruch, Chaos und Rechtslosigkeit geführt und mindestens einen Drittel der europäischen Bevölkerung das leben gekostet hatte. Und die Europäische Union würde es nicht geben ohne die grauenhafte Erfahrung des zweiten Weltkrieges. Europa ist auf also dem Weg, die Macht ins Recht einzubinden, und dies seit Jahrhunderten.
Die heutige transatlantische Auseinandersetzung fand eigentlich auch schon während des Kalten Krieges statt, aber es war öffentlich nicht so sichtbar, denn in jener Phase verhielten sich die USA diesbezüglich relativ «europäisch» . Man konnte sich Differenzen innerhalb des «Westens» einfach nicht leisten. Seit der Implosion des Ostens entledigen sich die Vereinigten Staaten jedoch alles Europäischen. Der erste Golf-Krieg war noch von einem UNO-Mandat abgedeckt. Im Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien wurde das UNO-Mandat aber als nicht mehr für nötig befunden, man setzte auf die NATO. Bereits im Afghanistan-Krieg erschienen die NATO-Partner jedoch als eine zu grosse Einschränkung der eigenen Souveränität, so dass man für die militärische Aktion das Konzept der «Koalition der Willigen» erfand. Dieses Konzept soll nun auch wieder beim Angriff auf Irak zur Anwendung kommen. Parallel dazu wird heute die Liste der völkerrechtlichen Verträge immer länger, bei welchen die USA Abstinenz üben und sich damit fast dem ganzen Rest der Welt entgegenstellen. Die USA sind offensichtlich immer weniger bereit, einen Souveränitätsverzicht zugunsten des Völkerrechtes zu leisten und sich in eine weltweite Ordnung einzugliedern. Der europäische Weg, die Mach ins Recht einzubinden, wird von den USA also rückwärts begangen: Macht soll wichtiger sein als Recht. Oder anders gesagt: Es gilt das Recht des Stärkeren und nicht die Stärke des Rechts.
Recht und Moral
Die gegenwärtige Auseinandersetzung um den Irak-Krieg macht jedoch vor allem deutlich, dass Europa und die Vereinigten Staaten das Verhältnis zwischen Recht und Moral unterschiedlich handhaben. Die Aufklärung hat im europäischen Rechtsdenken Recht und Moral getrennt. Die politische Auseinandersetzung über die Gesetzgebung stellt zwar verschiedene Moralvorstellungen gegeneinander, und diese werden ausdiskutiert. Das daraus hervorgehende Recht ist jedoch moralisch neutral. Auch der Straftäter hat seine Würde, er ist nicht moralisch verwerflich, sondern nur rechtlich strafbar. Weltweit ist dieser aufklärerische Gedanke in den Menschenrechte umgesetzt worden, die seinerzeit gerade zugunsten der verachteten, als moralisch minderwertig geltenden Menschen erfunden wurden. Das US-amerikanische Rechtsdenken scheidet demgegenüber Recht und Moral viel weniger. US-amerikanische Straftäter gelten als moralisch schlecht, das US-Strafrecht kennt im Gegensatz zu Europa auch deutlich den Rachegedanken. Bei den Sammelklagen spielt öffentlicher moralischer Druck eine ungleich wichtigere Rolle als das Recht selber. Ueber Sammelklagen wird nämlich praktisch nie entschieden, sondern die Beklagten werden mittels moralischem Druck gezwungen, in prozessabschliessende Vergleiche einzuwilligen.
Zwischen dem innerstaatlichen US-Rechtsverständnis und der tendenziellen Ablehnung völkerrechtlich verbindlicher Ordnungen durch die USA gibt es eine Verwandtschaft: Sowohl das Innen- als auch das Aussenverhältnis ist stark moralisch geprägt. Dasselbe – nur umgekehrt – gilt für Europa: Der Trennung von Recht und Moral im innerstaatlichen Recht entspricht die Vorgehensweise, im Aussenverhältnis zwischen den Staaten die Macht via Souveränitätsverzicht ins Recht einzubinden. Nicht umsonst ist ebenfalls im westfälischen Frieden der Krieg aus religiösen oder moralischen Gründen ein für allemal geächtet worden und es fanden danach nur noch – wenn auch in erschreckendem Ausmass – «gewöhnliche» Eroberungskriege statt. Der Souveränitätsverzicht der Staaten hat in Europa die Ueberwindung des moralischen Rasters von «gut und böse» ermöglicht. Wenn westeuropäische Staaten heute Interessengegensätze austragen, so qualifizieren sie sich gegenseitig nicht als «böse» , diese Kategorie ist definitiv überwunden.
Ohne Souveränitätsverzicht ist es nicht möglich, das Freund-Feind-Schema zu überwinden, und dieses wurzelt letztlich im moralischen Gegensatz von «gut» und «böse» . Dieser Zusammenhang ist heute wieder höchst aktuell geworden, indem die «Koalition der Willigen» nämlich eine moralische Kategorie darstellt, die mit «gut und böse» operiert. Es braucht sehr wenig, bis die «Willigen» zu «Freunden» werden, sie werden zu Freunde der USA. Freundschaften sind immer gut, und dagegen wäre ja noch nichts einzuwenden, wenn nicht untrennbar damit das Gegenstück verbunden wäre. Die «Unwilligen» werden nämlich so automatisch zu Feinden der USA. Die letzten Wochen haben uns diese Mechanismen recht drastisch vor Augen geführt. Was Deutschland anbelangt, war zwar nicht direkt von Feindschaft die Rede. Aber es hiess überall, Deutschland habe sich isoliert. Was bedeutet dies eigentlich ? Es bedeutet, dass der Intensitätsgrad der Freundschaft mit den Vereinigten Staaten gleichbedeutend sei mit dem Intensitätsgrad der Akzeptanz durch die Staatengemeinschaft ganz allgemein. Aus US-amerikanischer Sicht trifft dies zu. Aus europäischer Sicht ist es aber keinesweg richtig, ganz im Gegenteil: Wir gehen – zusammen mit unzähligen Staaten in anderen Kontinenten – davon aus, dass wir uns zunehmend auf eine Völkerrechtsordnung einigen wollen, indem wir zunehmende Souveränitätsverzichte leisten. Der einzig logische Gradmesser für die Integration in die weltweite Staatengemeinschaft kann also die Intensität sein, mit welcher ein Staat an diesem Prozess teilnimmt und ob er sich an die gemeinsam erarbeitete Ordnung hält. Dass eine Nation, die den Souveränitätsverzicht ablehnt, darauf besteht, die Welt in Freunde und Feinde einzuteilen, ist absolut folgerichtig und logisch. Wir müssen uns aber klar sein, was das bedeutet. Es bedeutet, nicht nur eine Ablehnung der Trennung von Recht und Moral gleich, sondern das Recht wird durch die Moral ersetzt. Europa würde hinter das Jahr 1648, also hinter den westfälischen Frieden zurückfallen, wenn es sich dem nicht tatkräftig widersetzen würde.
Lassen Sie mich noch auf ein letztes Element der moralisch bedingten Verwandtschaft zwischen dem US-innerstaatlichen Rechtsverständnis und der tendenziellen Ablehnung völkerrechtlich verbindlicher Ordnungen hinweisen: Durch die Terroranschläge vom 11.September 2001 ist das US-amerikanische Nationalgefühl zutiefst getroffen worden. In der Folge betrachteten die Vereinigten Staaten das in ihrer Nation verkörperte «Gute» als so bedroht, dass alle anderen, universell geltenden Werte daneben zurücktraten, so auch die Menschenrechte von Gefangenen, die des Terrorismus verdächtigt werden. Man diskutierte sogar medienöffentlich die Frage, ob das Folterverbot auch für potentielle Terroristen gelte. Dass die USA keinen einzigen internationalen Ueberwachungsmechanismus mit Individualbeschwerde im Bereich der Menschenrechte anerkannt haben, fügt sich logisch in dieses Bild. Die Trennung von Recht und Moral entspricht nun einmal nicht der Tradition dieses Landes, diesbezüglich hat die Aufklärung in den Vereinigten Staaten keinen Einzug gehalten.
Rechtsordnung und «Freiwilligkeit"
Hier komme ich nun nochmals auf den Begriff der Freiwilligkeit zurück, die in den USA eine so grosse Rolle spielt. Wie bereits erwähnt figuriert er dort als Gegenbegriff zur Staatlichkeit. Vieles, was wir in Europa dem Staat übertragen haben, wird jenseits des Atlantiks von privaten Institutionen wahrgenommen. Man tätigt Aufrufe – ein moralisches Instrument -, und man setzt darauf, dass solchen Aufrufen freiwillig gefolgt wird. Man finanziert lieber über Spenden als über Steuern. Kurz gesagt werden gesetzliche Regelungen möglichst vermieden. Immer wieder findet eine sorgfältige Annäherung an das absolut notwendige Mindestmass an Kompetenzen statt, die das Individuum an den Staat abzutreten bereit ist. Dies geschieht im Namen der «persönlichen Freiheit» .
In Europa gab es Staaten schon lange bevor die Aufklärung den Gedanken der individuellen Freiheit propagierte, und die ersten Freiheitsgarantien kamen aus den Rechtsordnungen, die sich im Rahmen dieser Staaten entwickelten, als die Souveränität noch bei den Königen und Fürsten lag. Als das Volk dem Adel die Souveränität später aus den Händen nahm, war diese Souveränität schon längst nicht mehr grenzenlos, sondern ihr war durch das Recht ein Rahmen gesetzt, und dies zum Schutz der Freiheitsrechte des Individuums. Mit andern Worten war es schon damals jedem vernünftig denkenden Menschen in Europa klar, dass das Individuum seine grenzenlose Ur-Freiheit an den Staat abgetreten haben musste, wenn eine wie auch immer gestaltete Ordnung möglich werden sollte, die auch dem Schutz und der Freiheit der Einzelnen diente. Für Europäerinnen und Europäer ist der erste, ursprüngliche und individuelle Souveränitätsverzicht zugunsten des Staates etwas so Selbstverständliches, dass dieser Gedanke im Bewusstsein schon gar nicht mehr als eine eigene Kategorie existiert. Genau das habe ich mit dem Begriff der staatspolitischen Identität der Europäerinnen und Europäer umschrieben. Und genau dieser Kernpunkt der europäischen Ideengeschichte ist es, den Generationen um Generationen von Auswanderern in die neue Welt im Namen einer «neuen Freiheit» ablehnten, um von nun an dieselbe Fragestellung aus einem Blickwinkel anzugehen, der sich um genau 180 Grad vom europäischen unterscheidet: In Europa erreicht man Freiheit und Sicherheit durch den ursprünglichen und individuellen Souveränitätsverzicht zugunsten der Staatlichkeit. In den Vereinigten Staaten geht man von einem anderen Freiheitsbegriff aus, man will die Freiheit von dieser Staatlichkeit. Dies ist nur deshalb überhaupt möglich, weil es die Religion als dritte Dimension gibt, und weil die Staatlichkeit eben nicht diese dritte Dimension ausmacht. Für Europa heisst dies aber umgekehrt, dass und der US-amerikanische Weg des Freiheitsverständnisses nicht offensteht: Bei uns hat die Religion die Funktion der dritten Dimension nicht mehr, und es ist eben die Staatlichkeit, welche die dritte Dimension ausmacht. Diese beiden Dinge schliessen sich gegenseitig aus.
Heute geraten die beiden transatlantisch unterschiedlichen Freiheitskonzepte in Konflikt, und auch das hat seine Logik: Mit dem Konzept der «Koalition der Willigen» heben die Vereinigten Staaten nämlich eine Art Freiwilligen-Ideologie nun auch auf die völkerrechtliche Ebene. Betreffend den Souveränitätsverzicht ist hier eine vollständige Analogie feststellbar: Genau so wie die US-amerikanische Interpretation von «Freiwilligkeit» im individuellen Bereich bedeutet, dass sich das Individuum keinen rechtlichen, und somit für alle gleicherweise geltenden Vorgaben unterziehen will, weil der US-Amerikaner nicht bereit ist, auf seine souveräne Ur-Freiheit zugunsten einer gemeinsamen Rechtsordnung zu verzichten, genau so wollen sich die Vereinigten Staaten in Zukunft offenbar keinen Vorabsprachen mit ihren Alliierten mehr unterziehen, weil sie jederzeit uneingeschränkte und absolute Souveränität beanspruchen und nicht bereit sind, auch nur den geringsten Verzicht auf diese Souveränität einzugehen. Das Konzept der «Koalition der Willigen» untergräbt die umfassende Einbindung der Völkergemeinschaft und dient dazu, die völkerrechtliche Ordnung zu schwächen. «Freiwilligkeit» nach US-amerikanischem Muster ist der Gegenbegriff zum individuellen Souveränitätsverzicht, genau so wie die Freiwilligkeit im Sinne der «Koalition der Willigen» nach US-amerikanischer Vorstellung der Gegenbegriff zum Souveränitätsverzicht der Staaten darstellt.
Europa und die Vereinigten Staaten
Europa geht im transatlantischen Verhältnis auf eine sehr langedauernde Auseinandersetzung zu. Antiamerikanische Strömungen werden dabei den europäischen Standpunkt nur schwächen, denn sie nehmen indirekt den Faden auf von «gut und böse» , von «Freund und Feind» , der dem europäischen Denken in der politischen Auseinandersetzung nicht entspricht. Dass Proamerikanismus von «gut» und «böse» ausgeht und deshalb die Gemüter moralisch aufheizt, ist logisch. Dies liegt daran, dass US-Amerika letztlich eine Sache des Glaubens ist. Europa muss demgegenüber eine Sache der Ratio sein. Europa wird sich in der Auseinandersetzung mit den USA nur dann behaupten können, wenn es die transatlantischen Unterschiede rational analysiert und seine Tradition der fortschreitenden Einbindung der Macht in das Recht auch weltweit konsequent fortsetzt. Aber – und das ist wichtig – im klaren Wissen um die Ausgangsposition der USA, die sich nicht ändern wird, denn diese Nation ist nach wie vor eine Antithese zu Europa.
Die antieuropäischen Gefühle in den Vereinigten Staaten sind für mich sehr verständlich – mehr als die antiamerikanischen in Europa. Von folgendem bin ich nämlich überzeugt, und damit komme ich zum Schluss meiner Ausführungen: Völkerrechtsordnungen und der ihnen zugrundeliegende Souveränitätsverzicht der Staaten sind den USA so fremd, dass die europäische Integration für sie letztlich eine Bedrohung darstellt. Würde dieses bislang europäische Phänomen nämlich Schule machen oder würde es gar dereinst zu einem über den europäischen Kontinent hinaus attraktiven Modell der Zusammenarbeit, so wäre militärische Ueberlegenheit allein kein Machtfaktor mehr. Und «clashes of civilisation» – zwischen welchen Religionen oder Kulturen auch immer – würden der Vergangenheit angehören, weil man sich nicht mehr auf religiös oder moralisch begründeten Schlachtfeldern tummeln könnte. Aber: Auch wenn der europäische Weg für viele US-Amerikaner eine Bedrohung darstellt, so meine ich doch, dass Europa diesen Weg weitergehen muss.
Viele Bedrohungen für die Menschheit und ihre Lebensmöglichkeiten auf diesem Planeten verlangen mit Nachdruck nach weltweiter rechtlicher Einbindung in gegenseitiger Verpflichtung. Deshalb kommt auf Europa nicht nur eine langedauernde Auseinandersetzung zu, sondern auch eine grosse Verantwortung. Europa ist die einizige Weltregion, die wirtschaftlich genügend stark ist, um den Vereinigten Staaten überhaupt entgegenzutreten. Das transatlantische Gespräch muss weiterhin stattfinden. Für die europäische Seite ist dieses Gespräch jedoch sehr anspruchsvoll, weil die Europäer in einer ersten Gesprächsrunde oft damit konfrontiert sein werden, dass die Vertreter der anderen Seite ihren Standpunkt – bewusst oder unbewusst – als den «guten» betrachten, den sie aufgrund ihres national-religiös bedingten Sendungsbewusstseins in die Welt hinaustragen müssen. Die oft gehörte Interpretation, dieses Sendungsbewusstsein sei auf die militärische Ueberlegenheit der Vereinigten Staaten zurückzuführen, greift zu kurz: Auch wenn dieser Machtvorsprung dereinst aus irgendwelchen Gründen nicht mehr gegeben wäre, bliebe der religiös-nationale Ausgangspunkt genau der selbe. Dem religiös begründeten moralischen Anspruch, das schlechthin «Gute» zu vertreten, neben welchem alle anderen Standpunkte verblassen müssen, kann man sich nur unterwerfen, und wer dies nicht tut, wird zum Un-Freund, er vertritt entweder etwas «Dummes» oder etwas «Böses» . Das Gespräch kann nur weitergehen, wenn genau diese moralischen Prämissen hinterfragt werden, und dies einseitig in Gang zu bringen, ist äusserst anspruchsvoll. Der Trost für die europäische Seite liegt darin, dass sie das selbe Problem im Innenverhältnis schon einmal bewältigt hat – nämlich 1648. So wird es doch vorstellbar, diese schwierige Aufgabe auch im Aussenverhältnis anzugehen. Eine Illusion gilt es jedoch von Anfang zu vermeiden: Erfolge werden nur betreffend das aussenpolitischen Verhalten der Vereinigten Staaten in einzelnen Sachgebieten zu erreichen sein. Die moralisch-religiöse Ausgangsposition des transatlantischen Gesprächspartners ist nicht zu verändern, weshalb die Situation immer wieder von Neuem eintreten wird, dass die moralischen Prämissen thematisiert werden müssen, wenn das Gespräch weitergeführt werden soll.