Verständigungshilfe: Gret Haller will Europa nahe bringen, was man jenseits des Atlantiks unter Politik versteht
Wer im deutschsprachigen Raum politische Vorgänge und Konflikte begreifen, hinter der Oberfläche stöbern will, kann zwischen zwei streng getrennten Arten von Literatur wählen: einmal den schwergewichtigen Werken zünftiger Politologen und Soziologen – falls er deren Sprache versteht – oder den Autobiographien, Analysen und Visionen, als deren Autoren – zu Recht oder Unrecht – namhafte Politiker firmieren. Die erste Sparte beschäftigt sich mit politischer Theorie, sie ist Literatur von der Zunft vor allem für die Zunft. Sie lässt sich durch die Praxis nicht irritieren oder gar korrigieren. Die zweite erklärt und verklärt, rechtfertigt oder verdammt politische Praxis, fast immer ohne Rücksicht auf das, was in der politischen Theorie zur Zeit an Fragestellungen Mode ist.
Denn zwischen beiden gähnt der Graben, der hierzulande politische Theorie und politische Praxis trennt. Wer versucht, eine Planke über diesen Graben zu legen, muss aufpassen, dass er nicht hineingestoßen wird und dann ganz allein zerkratzt und dreckig wieder herauskrabbeln muss.
Ob es wohl Gret Haller, der politisch erfahrenen Schweizer Sozialdemokratin, besser ergehen wird? Ist sie doch vermessen genug, gründlich und mit wissenschaftlichem Anspruch über Erfahrungen nachzudenken, die sie in der Praxis, als die – im Dayton-Vertrag vorgesehene – Ombudsfrau für Menschenrechte in Sarajevo, gemacht hatte. Immer wieder hatte sie sich darüber gewundert, dass und warum Europäer und Amerikaner so verschieden agierten, dass und warum sie oft gar nicht dasselbe wollten, warum im Vertrag von Dayton der bosnische Staat von unten bis oben nicht als Staat seiner citoyens und citoyennes, sondern als Balance seiner Volksgruppen organisiert ist.
Wieder zuhause in Bern hat sie fleißig gelesen und studiert. Sie wollte wissen, warum der Staat für Amerikaner etwas anderes bedeutet als für Europäer, warum Trennung von Kirche und Staat diesseits und jenseits des Atlantiks keineswegs dasselbe bedeuten, warum Amerikaner, wenn sie in Bosnien einen demokratischen Staat aufbauen wollen, sich auf die US-Verfassung berufen.
Das Ergebnis hat sie auf 240 Seiten eines Buches festgehalten, das den Titel trägt: Die Grenzen der Solidarität. Wie die meisten Buchtitel heutzutage, ist auch dieser eingängig, aber irreführend. Denn es geht der Autorin nicht darum, wie viel Solidarität mit den Vereinigten Staaten – oder deren Regierung – einem Europäer wohl ansteht. Das Schöne an diesem Buch ist gerade die Abwesenheit des moralischen Zeigefingers. Haller will verstehen, warum Europäer und Amerikaner, von ihrer Geschichte geprägt, oft gar nicht anders können als verschieden, ja kontrovers zu denken, zu werten, zu urteilen und zu handeln. Ihr geht es um die politischen Kulturen hier wie dort.
In Sarajevo war der Schweizerin zweierlei aufgefallen: einmal eine Dominanz der Amerikaner, zum anderen der Mangel an einem schlüssigen Konzept für Bosnien. Schließlich, nach Monaten, begriff sie, dass beides zusammenhing, «dass die beobachtete Konzeptlosigkeit selbst ein Konzept darstellte. Die US-Amerikaner hatten nämlich oft keine genaue Vorstellung davon, was nach europäischem Verständnis ein funktionierender Staat war» . Bestandteil US-amerikanischer Identität, so fand sie heraus, «ist das Misstrauen gegenüber dem Staat» .
Und bei Stephen Kalberg fand sie die Erläuterung: «Die Grundväter legten allergrößten Wert darauf, den Staat daran zu hindern, sich in gesellschaftliche Entwicklungen einzumischen. Seine Aufgabe war es vielmehr, deren ungestörte Entfaltung sicher zu stellen, indem er die freie Diskussion und den offenen Austausch von Ansichten schützte. Die gute und gerechte Gesellschaft würde sich entwickeln, davon waren die Amerikaner in der Anfangszeit überzeugt, wenn die Regierung alle Versuche unterließ, die Richtung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels zu beeinflussen."
Wenn dies das Erbe der Siedler war, die staatlicher Bevormundung entkommen wollten, dann ist Politik in Amerika und Europa nicht dasselbe. In Europa sollen staatliche Gesetze sehr wohl Einfluss nehmen auf die Gesellschaft, etwa die progressive Einkommenssteuer. Und in einer Zeit, in der sustainable development, also eine durchhaltbare, zukunftstaugliche Entwicklung sich nicht mehr von selbst versteht, kann eine Regierung eben nicht alle Versuche unterlassen, die Richtung des Wandels zu beeinflussen. Im Gegenteil: Sie muss dem Wandel eine andere Richtung geben. Energieversorgung ist dann eben nicht nur eine Sache des Marktes, sondern von Gesetzen, etwa der Ökosteuer oder der Förderung erneuerbarer Energien.
Rührt daher der Konflikt zwischen Europa und den USA über das Kyoto-Protokoll? Wie kommt es, dass amerikanische Senatoren sich darüber empören, wenn europäische Staaten gegen die Scientology-Sekte vorgehen? Haller formuliert: «Europa brauchte (1648) die Freiheit zum Staat, um die Freiheit von Religion durchsetzen zu können; die Vereinigten Staaten brauchten umgekehrt die Freiheit vom Staat, um die Freiheit zur Religion durchsetzen zu können.» Wer sich zur Religion erklärt, ist dann eben eine Religion.
Warum nennen die Amerikaner ihre Regierung administration, obwohl sie doch offenkundig mehr als nur Verwaltung ist? Weil sie ursprünglich nur Verwaltung wollten, also einen rechtlichen Rahmen für das, was – eigengesetzlich – in der Gesellschaft vorging. In Europa, meint Haller, wird sauber unterschieden zwischen Staat und Gesellschaft, in Amerika nicht. Wenn die Amerikaner den Staat meinen, sagen sie meist government. So sind die berühmten NGO's, die «Non-Governmental Organisations» auf europäisch einfach nicht-staatliche Organisationen.
In den USA hat auch der Staat religiöse Wurzeln. Das Wort covenant, das schon den alttestamentlichen Bund Gottes in seinem Volk bezeichnet, wird auch für die Gründung der USA gebraucht. Von da aus ist es dann nicht mehr weit zum auserwählten Volk, zumindest zu dem göttlichen Auftrag für die Amerikaner. Aber hier ist nicht der Platz, all die Unterschiede zwischen Europa und Amerika durchzubuchstabieren, die Haller aufgefallen sind. Doch es leuchtet ein, dass für sie der Neoliberalismus mit seiner Abwertung des Staates letztlich eine amerikanische, keine europäische Ideologie ist, dass sie Verständnis hat für die Menschen im südlichen Teil der Erde, für die eine neoliberal geprägte Globalisierung dasselbe ist wie Amerikanisierung.
Sogar für die strikte Weigerung der USA, am internationalen Gerichtshof mitzuwirken, ihre Bürger notfalls ihm zu unterstellen, hat die Politikerin aus Bern eine Erklärung: In den USA fehlt, auch in der Verfassung, der Begriff der Volkssouveränität. Für Europäer «ist der erste, ursprüngliche und individuelle Souveränitätsverzicht zugunsten des Staates etwas so Selbstverständliches, dass dieser Gedanke im Bewusstsein schon gar nicht mehr als eine eigene Kategorie existiert» . Diesen individuellen Souveränitätsverzicht haben die Amerikaner nie geleistet. Daher, so Haller, fällt ihnen auch der nationale Souveränitätsverzicht ungleich schwer. Der Rezensent fügt hinzu: Es hat offenbar gute Gründe, warum die Privatisierung und Kommerzialisierung der Gewalt in den USA schon viel weiter gediehen ist als in Frankreich oder Deutschland. Das Gewaltmonopol des Staates war in Amerika immer löchriger als bei uns.
Man mag über die eine oder andere Erklärung europäisch-amerikanischer Differenzen streiten. Aber nicht über die Berechtigung von Hallers Ansatz. Alle spüren, dass nach Ende des Kalten Krieges die Reibungsflächen zwischen Amerika und Europa sich ausdehnen und die Reibung härter, hitziger wird. Daher droht uns eine Moralisierung dieser Konflikte, und zwar von beiden Seiten. Das Buch der Schweizerin könnte uns davor bewahren: Nicht weil die einen besser sind als die anderen, gehen sie oft verschiedene Wege, sondern weil die Geschichte beide sehr unterschiedlich geprägt hat. Die Europäer können lernen, wo sie um ihrer Identität willen nicht nachgeben können, aber eben auch, was sie den Amerikanern zumuten können und was besser nicht. Gret Haller will nicht anklagen, sondern verstehen, warum wir sind, wie wir sind, und die anderen auch. Das tut uns gut, auf beiden Seiten des Atlantiks.
Gret Haller: Die Grenzen der Solidarität. Europa und die USA im Umgang mit Staat, Nation und Religion. Aufbau-Verlag, Berlin 2002, 288 Seiten, 20 .
[ document info ]
Copyright © Frankfurter Rundschau 2002
Dokument erstellt am 20. Oktober 2002 um 21:08:53 Uhr
Erscheinungsdatum 21. Oktober 2002
http: / / www.fr-aktuell.de / fr / 196 / t196004.htm