Gret Haller
Europa als «natürlicher Gegenspieler» der USA
von Jürg Müller, «Der Bund» 03. September 2002, Ausgabe-Nr. 204, Ressort Seite 2

USA-EUROPA / Die Unterschiede zwischen Europa und den USA sind viel
tiefgreifender als gemeinhin angenommen: Diese These vertritt Gret Haller in ihrem neusten Buch. Die frühere Stadtberner Gemeinderätin, SP-Nationalrätin und Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien-Herzegowina warnt vor einer Verbreitung des amerikanischen Staats- und Politikverständnisses in Europa.

Es knirscht in der einst anscheinend so festgefügten westlichen
Partnerschaft und Wertegemeinschaft. Immer offensichtlicher pflegen die USA
und Europa in Fragen der internationalen Zusammenarbeit unterschiedliche
Auffassungen und gehen verschiedene Wege. Akzentuiert wird diese Entwicklung
durch die Terroranschläge vom 11. September: Die USA setzen immer mehr auf
militärische Stärke und immer weniger auf multilaterale Kooperation.

Robert Kagan, einer der führenden Experten für strategische Fragen der
US-Aussenpolitik, meint, die Europäer könnten sich ihre auf Diplomatie,
Verhandlungen und Verträgen basierende Ablehnung von Machtpolitik nur
leisten, weil die USA bereit seien, ebendiese überall in der Welt
einzusetzen. Der deutsche Altkanzler Helmut Schmidt alles andere als ein
Antiamerikaner schrieb dagegen kürzlich in der «Zeit», die Freundschaft mit
den USA «muss uns nicht hindern zu erkennen, dass wir kein Interesse am
Ausbau der amerikanischen Tendenz zum Alleingang oder gar zum Imperialismus
haben.» Die Debatte gewinnt an Fahrt.

Kaum überbrückbarer Graben

Die Erkenntnis, dass der Alte Kontinent und die Neue Welt aus
unterschiedlichem Holz geschnitzt sind, ist zwar weder neu noch originell.
Gret Haller sie hat bereits verschiedentlich über Menschenrechte und
Menschenrechtskultur publiziert bringt in ihrem jüngsten Werk jetzt aber
einen in der breiten Öffentlichkeit wenig beachteten Aspekt zur Sprache: In
ihrem Buch mit dem Titel «Die Grenzen der Solidarität Europa und die USA im
Umgang mit Staat, Nation und Religion» ortet die Autorin einen schwer
überbrückbaren Graben, der auf der Ideengeschichte, auf einer
unterschiedlichen Religions-, Rechts- und Staatskultur fusst.
Sie ist überzeugt, dass Westeuropa und die USA «in verschiedenen Bereichen
von viel unterschiedlicheren Prämissen ausgehen, als man während des Kalten
Krieges anzunehmen vermochte». Nach dem Ende der simplifizierenden
Zweiteilung der Welt in Ost und West treten die Differenzen immer deutlicher
zutage, ja Europa sei «zum natürlichen Gegenspieler der Vereinigten Staaten
geworden».
Was das Buch besonders spannend macht: Die Autorin untersucht die
transatlantischen Differenzen nicht nur theoretisch, sondern stützt ihre
Argumentation auf subtile Beobachtungen und Erfahrungen, die sie während
ihrer Tätigkeit als Menschenrechtsbeauftragte in Bosnien machte. Sie liefert
eine prägnante Darstellung der Probleme der internationalen Gemeinschaft
beim Aufbau staatlicher Strukturen und der Schwierigkeiten bei der
Zusammenarbeit mit US-amerikanischen Stellen in diesem komplizierten
Unterfangen.

Misstrauen gegenüber Staat

Haller leitet die Disharmonien zwischen Europa und den USA aus der
Geschichte her. Zentral ist für sie dabei die Weggabelung von 1648: Die
Entwicklung Europas führte nach dem Dreissigjährigen Krieg und dem
Westfälischen Frieden weg von den Religionskriegen hin zum Primat des
Staates über die Religion. Die religiöse Begründung des Staates fiel dahin.
Bei der Begründung der nationalen Identität der USA dagegen verhält es sich
gerade umgekehrt: Zwar kennen die USA eine strikte Trennung von Kirche und
Staat, aber mit dem Ziel, das Religiöse vor dem staatlichen Zugriff zu
schützen, um damit das religiöse Fundament der Nation zu bewahren. In Europa
entwickelte sich nach den Religionskriegen und Kulturkämpfen aller Art ein
latentes Misstrauen gegenüber den Kirchen, in den USA dagegen ist bis heute
das Misstrauen gegenüber dem Staat wichtiger Bestandteil der Identität.
Die Französische Revolution verband den Staat mit der Nation und machte den
säkularisierten Nationalstaat in Europa zum Modell; diese Verbindung von
Staat und Nation verlieh der Staatlichkeit grosses Gewicht und Ansehen und
diente auch als Gefäss für nationale Gefühle. Gerade umgekehrt ist die
Gefühlslage in den USA: Die puritanischen Pilgerväter wanderten in die Neue
Welt aus, um ihren religiösen Vorstellungen ungehindert nachleben zu können,
was sich auf das Verständnis der Nation auswirkte. «Die Begründung der
US-amerikanischen Nation ist letztlich eine religiöse», schreibt Haller.
Denn was man wirklich nicht wollte, war die Gründung eines eigenen Staates
in jener Ausprägung, die man durch die Auswanderung gerade erst
abgeschüttelt hatte.
Das Fehlen eines europäischen Staatsverständnisses hatte weit reichende
Konsequenzen. Da die Zugehörigkeit zum Staat als Zwang empfunden wird,
werden zahlreiche in Europa als öffentlich verstandene Aufgaben in den USA
durch private Vereinigungen wahrgenommen: «Etwas verkürzt könnte man sagen,
Europa habe damals als gesellschaftliche Einbindung die Staatlichkeit
gewählt, die Vereinigten Staaten hingegen die ,Gemeinschaft.» Das wiederum
hat zur Folge, dass man sich zu diesen selbst gewählten Gruppen und
Gemeinschaften oder eben auch zur amerikanischen Nation, zum «American Way
of Life» aktiv bekennen muss, ganz ähnlich wie zu einer Religion. «Der
Begriff ,Bekenntnis wird so gleichsam zum Schlüsselbegriff für die Erklärung
transatlantischer Unterschiede.» In Europa so lautet Hallers These gehört
der Einzelne einfach schon deshalb zu Staat und Gesellschaft, weil er
existiert ganz ohne Bekenntnis.

Kein Souveränitätsverzicht

Die stark auf einem individuellen Akt basierende Zugehörigkeit bewirkt
deshalb auch ein anderes Rechts- und Politikverständnis des Amerikaners.
Einzelpersonen, aber auch Interessengruppen und Minderheiten suchen viel
stärker die juristische Auseinandersetzung statt die politische Betätigung:
«Demokratie ist in Europa klar mit Parlamentarismus verbunden, während in
den Vereinigten Staaten Demokratie viel stärker mit der Justiz verbunden
ist.» Was in Europa politisch erkämpft wird, wird in den USA juristisch
erstritten. Gret Haller ist deshalb überzeugt, «dass das europäische Recht
eher eine Friedensordnung anstrebt, das US-amerikanische Recht demgegenüber
eher eine Streitkultur darstellt».
Das hat Auswirkungen auf das Verständnis des Völkerrechts: Die Europäer
haben die Gestaltung einer allgemein gültigen Ordnung vor Augen und sind im
Namen des Völkerrechts zu einem Souveränitätsverzicht bereit etwas, das den
Amerikanern völlig gegen den Strich geht: «Die immer offensichtlicher
werdende Ablehnung des völkerrechtlichen Souveränitätsverzichts durch die
Vereinigten Staaten hat vor allem historische Wurzeln, die darauf
zurückgehen, dass der ,Souveränitätsverzicht des Individuums zugunsten des
Staates jenseits des Atlantiks ein Phänomen darstellt, das negativ gesehen
wird.»
Mit anderen Worten: Das bereits oben dargestellte Misstrauen gegenüber dem
Staat überträgt sich auf die internationale Ebene. Die europäischen Staaten
haben sich dagegen nicht zuletzt angesichts ihrer leidvollen Geschichte in
verschiedenen Bereichen auf den teilweisen Verzicht auf nationalstaatliche
Souveränität geeinigt so etwa im Rahmen der EU.
Das zeigt sich aber auch am Beispiel der Menschenrechte: Kein Staat kann
Mitglied des Europarates werden, ohne den Souveränitätsverzicht zugunsten
des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte geleistet zu haben: Jeder
kann sich mit einer Beschwerde an den Gerichtshof wenden, der unabhängig von
den Regierungen der Vertragsstaaten Recht spricht. Ganz anders die USA. Sie
unterwerfen sich laut Haller «konsequent keinen völkerrechtlichen
Schutzmechanismen mit Individualbeschwerde».
Ausführlich geht Haller auf das unterschiedliche Menschenrechtsverständnis
im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit in Bosnien ein. Sie verweist zudem
darauf, dass die transatlantischen Unterschiede bereits beim Zustandekommen
des Friedensabkommens von Dayton 1995 eine Rolle gespielt haben (siehe
Interview). Die mittelosteuropäischen Staaten seien für das US-Modell nicht
zuletzt deshalb empfänglich, weil sich «der Staat» in kommunistischer Zeit
selbst gründlich diskreditiert hat.

Gefahren in Mittelosteuropa

Die Umwälzungen von 1989 waren «Revolutionen gegen den Staat» und weisen
somit eine Verwandtschaft mit der amerikanischen Revolution im 18.
Jahrhundert auf. Haller verweist denn auch darauf, dass das amerikanische
Modell der Gesellschafts- und Gruppenidentität anstelle der europäisch
verstandenen Staatlichkeit in Mittelosteuropa den Kampf um die Durchsetzung
der Rechte «nationaler» Minderheiten als Gruppen fördern und damit die
ethnischen Spannungen anheizen könne: «Würde anstelle der staatspolitischen
Identität eine ,Identität der Gemeinschaft entwickelt, so wäre es kaum
möglich, die nationalistischen Kräfte in ein Ganzes zu integrieren.» Die
Autorin warnt: «Dabei sollte Westeuropa die friedenspolitische und die das
Freiheitsverständnis betreffende Sprengkraft nicht unterschätzen, welche
Mittelosteuropa in die gesamteuropäische Ehe einbrächte, wenn in diesem Teil
des Kontinents US-amerikanische Traditionen der Ideengeschichte rezipiert
würden.»
Gret Hallers Buch ist ein Plädoyer für die nüchterne Staatlichkeit
europäischer Prägung und ein europäisches Politikverständnis, obschon sie in
fairer Weise beiden Konzepten gerecht zu werden versucht. Es geht ihr dabei
«nicht um eine Wertung, schon gar nicht um eine moralische Wertung». Man
müsse beide Traditionen kennen, verstehen und rational einordnen. «Geschieht
dies nicht, so greift unter Umständen ein hilfloser ,Anti-Amerikanismus
Platz, der zwar als Reaktion auf den Absolutheitsanspruch des
US-amerikanischen Sendungsbewusstseins verständlich ist, insbesondere das
säkularisierte Europa jedoch nicht weiterbringt.»