Gret Haller
Neuer Westen
Die transatlantsichen Beziehungen nach dem Irak-Krieg
erschienen in italienischer Sprache in Il Regno, Quindicinale di Attualita e Documenti, No. 8, Bologna 2003

Es sei mir eine persönliche Vorbemerkung erlaubt. Ich schreibe diese Zeilen in den ersten Tagen des Irak-Krieges. Der Logistik dieses Krieges verweigere ich meine Aufmerksamkeit. Was mir die Information über die Televisionskanäle wohl kaum ermöglichen würde, erlaubten mir das Radio und die gedruckte Presse: Ich erfahre den Stand des Geschehens zusammengefasst und ohne das Detail des bewegten Bildes, so dass ich mich der Faszination nicht aussetzen muss, welche die Logistik des Krieges auf viele Leute ausübt. Die Hintergrundanalyse zum Kriegsgeschehen und wie es dazu kommen konnte, ist mir hingegen sehr wichtig und ich verfolge sie aufmerksam. So möchte denn auch dieser Artikel dazu beitragen, die Nachkriegs-Zeit vorzubereiten.

Im Hinblick auf die Lehren, die aus diesem Krieg zu ziehen sein werden, wäre es bereits heute sehr hilfreich, wenn Kommentatoren immer klar unterscheiden würden zwischen dem Beschrieb der faktischen Abläufe und der Frage nach Begründbarkeit und Rechtfertigung des Krieges. Insbesondere ist eine «erfolgreiche» Kriegsführung noch lange kein Argument zur Begründung oder gar zu einer Rechtfertigung. So wichtig die Diskussion über Begründbarkeit und Rechtsfertigung des Krieges ist, sie allein genügt zur Vorbereitung der Nachkriegs-Zeit jedoch nicht. Es muss auch ein Phänomen analysiert werden, welches erst seit 1989 beobachtet werden kann, weil der Kalte Krieg der europäischen Betrachtung eine diesbezüglich klare Sicht praktisch verunmöglicht hat. Es geht um transatlantische Unterschiede, die seit Jahrhunderten – ja seit Beginn der Auswanderung in die Neue Welt – bestehen, sich kontinuierlich gefestigt haben und in den letzten Wochen und Monaten überdeutlich wahrnehmbar werden.

Jahrhunderte alte Wurzeln

Europa hat nach den Religionskriegen im Westfälischen Frieden 1648 den religiös oder moralisch begründeten Krieg ein für alle mal geächtet. Kriege fanden danach nie mehr mit religiöser oder moralischer Begründung statt, sondern es handelte sich um Eroberungskriege, welche durch Nationen – allenfalls mit nationalistischer Begründung – geführt wurden. Durch den selben Friedensschluss hat Europa das Völkerrecht erfunden: Eine internationale Ordnung, welcher sich die Staaten durch Souveränitätsverzicht unterwerfen, wenn auch manchmal nur für kurze Zeit, aber das Phänomen der Unterwerfung unter das Völkerrecht war immerhin bekannt. Und aus der Aufklärung stammt die Trennung von Recht und Moral, welche sich in Europa schon früh durchgesetzt hat. Recht – auch Völkerrecht – ist moralisch neutral. Es dient zwar dazu, moralisch Normen umzusetzen, und die Beweggründe zum Erlass dieser Normen können durchaus moralischer Natur sein, so z.B. auch der Wunsch, künftig Krieg und Leiden der Menschen einzudämmen. Aber wenn die Rechtsnorm oder der völkerrechtliche Vertrag in Kraft getreten ist, so gelten sie gleicherweise für «gute» und «böse» Menschen oder erst recht für «gute» und «böse» Staaten, was immer man sich in diesem Zusammenhang unter «böse» auch vorstellen mag. Die drei erwähnten und für Europa bis heute ungemein prägenden Schritte, die im 17.Jahrhundert vollzogen worden sind, basieren auf der Einbindung der Religion in eine staatliche Ordnung.

Die Vereinigten Staaten sind als Antithese zu eben dieser Rangordnung entstanden. Die puritanischen Pilgerväter, welche in England in Opposition zur staatlichen Ordnung standen, betrachteten die religiös begründete Ordnung ihrer Gemeinden als öffentliche Orndungsstruktur schlechthin, und sie erachteten somit ein staatliche Ordnungssturktur als überflüssig. Sie lehnten jede staatliche Einmischung ab und der Weg in die neue Welt ermöglichte ihnen die konkrete Verwirklichung ihrer gesellschaftlichen Vorstellungen. Sie haben die Vereinigten Staaten entscheidend geprägt. Der bis heute strikte US-Staatsminimalismus basiert im Grund genommen darauf, dass im Gegensatz zu Europa die Staatlichkeit der Religion unterstellt worden ist. Trennung von Kirche und Staat bedeutet jenseits des Atlantiks, dass die Religion vor dem Staat geschützt werden soll, während Europa schon 1648 den Schlüssel dazu entdeckt hat, wie der Staat vor der Religion geschützt werden kann. Dieser Unterschied wirkt sich nun auch auf die beiden anderen Errungenschaften Europas aus dem 17.Jahrhundert aus: Nach der Trennung von Recht und Moral im europäischen Sinne sucht man in den Vereinigten Staaten vergebens. Und eine völkerrechtliche Einbindung durch Souveränitätsverzicht erscheint den Vereinigten Staaten heute mehr denn je als ein möglichst zu vermeidendes Uebel.

Im Vorfeld des Irak-Krieges sind diese Unterschiede nun mit einer Vehemenz zu Tage getreten, wie man sie sich vor einem Jahr noch kaum hätte vostellen können. Dabei besteht ein direkter Zusammenhang zwischen den drei Elementen, zu welchen sich Europa im 17.Jahrhundert durchgerungen hat, und alle drei Seiten dieses «ideengeschichtlichen Dreiecks» finden ihre Illustration im aktuellen Geschehen.

Das ideengeschichtliche Dreieck europäischer Errungenschaften

Eine Seite des Dreiecks verbindet die Unterwerfung der Religion unter die staatliche Ordnung mit der Akzeptanz einer völkerrechtlichen Ordnung. Für Europa bedingen sich diese beiden Elemente gegenseitig. Eine weltweite völkerrechtliche Ordnung, wie sie auch der UNO zugrundeliegt, schliesst alle Religionen der Welt ein, sie «übersetzt» den Willen der verschiedenen Staaten und damit der verschiedenen religiösen Kulturen in eine Ordnung des grösstmöglichen Gewaltverzichtes. Ist diese Ordnung einmal akzeptiert, so kann ein religiöses Motiv für sich allein keine Gewaltanwendung mehr begründen, und es besteht zwischen den Beteiligten auch kein Bedürfnis mehr danach. Ist hingegen die Religion oberste Maxime und nicht die Staatlichkeit, so muss ein aus religiösen Gründen geführter Krieg möglich bleiben. Die Akzeptanz der Einbindung in ein Völkerrecht, an welcher auch Staaten anderer religiöser Prägung und sogar «Schurkenstaaten» partizipieren, würde dies verunmöglichen, weshalb die USA sie ablehnen. Es muss weiterhin «Die Guten» und «Die Bösen» geben, und mit den zweiteren lässt man sich nicht ein, es sei denn kriegerisch. Die Ablehnung einer völkerrechtlichen Ordnung und die Dominanz der Religion über die staatliche Ordnung, wie man beides in den USA beobachtet, bedingen sich deshalb gegenseitig genau so. Dass nach der Implosion des kommunistischen Ostblockes, der das teuflische Prinzip repäsentiert hatte, durch Huntingtons «Clash of civilisations» sofort eine neue Verkörperung dieses teuflischen Prinzipes auftrat, war für dieses Element der US-amerikanischen Ideengeschichte absolut unverzichtbar.

Eine zweite Seite des Dreiecks verbindet die Unterwerfung der Religion unter die staatliche Ordnung mit der Trennung von Recht und Moral. Auch diese beiden europäsichen Errungenschaften bedingen sich gegenseitig. Aus europäischer Sicht hatte der irakische Diktator die Möglichkeit, einen Krieg dadurch zu vermeiden, dass er sich dem UNO-Abrüstungsbefehl – wenn auch spät und widerwillig – unterzog, denn er war weder «gut» noch «böse» , sondern einfach rational betrachtet «gefährlich» , und diese Gefahr sollte mit geeigneten Mitteln behoben werden. Aus US-Sicht hingegen hatte er, nachdem er einmal als «böse» eingestuft war, die Möglichkeit des Einlenkens nicht mehr. Dies zeigte sich darin, dass jedes Einlenken des Diktators durch Washington umgehend als «zu spät» qualifiziert, die Erfüllbarkeit der UNO-Resolution also zum vorneherein verneint wurde. Deshalb auch die durch die USA immer wieder neu formulierten Zielsetzungen dies Krieges, zuerst «Entwaffnung» , dann «Eliminierung» und schliesslich «Demokratisierung» , eine fast verzweifelte Suche nach einer Begründung für einen Krieg, für den es objektiv keinen Grund aber subjektiv im US-nationalen Selbstverständnis eine religiös bedingte, absolute Notwendigkeit gab. Die mangelnde Trennung von Recht und Moral in den USA und die in diesem Land praktizierte Dominanz der Religion über die staatliche Ordnung bedingen sich deshalb ebenfalls.

Die dritte Seite des Dreiecks schliesslich verbindet die Trennung von Recht und Moral mit der Akzeptanz einer völkerrechtlichen Ordnung. Auch hier finden wir für Europa eine gegenseitige Bedingtheit der beiden Element. Die Akzeptanz einer möglichst weltweit geltenden Völkerrechtsordnung, wie sie auch der UNO zugrundeliegt, will möglichst alle dabeihaben, sie lässt eine Unterteilung in Freund und Feind nicht zu, und sie funktioniert nur durch grösstmögliche Inklusivität. Stellt man diesem Denken ein Freund-Feind-Schema gegenüber, wie es die USA mit der von ihr erfundenen «Koalition der Willigen» getan haben, so will man bewusst eine Exklusivität und nicht umfassende rechtliche Einbindung. Die «Guten» werden Freunde der USA, und wer sich nicht dazu zählen will, gehört nicht mehr zu den «Guten» . Deshalb besteht zwischen der mangelnden Trennung von Recht und Moral in den USA und der Ablehnung einer völkerrechtlichen Bindung durch dieses Land ebenfalls ein Zusammenhang. Die «Koalition der Willigen» stellt den Gegenbegriff dar zu einer umfassenden Völkerrechtsordnung, wie sie Europa 1648 immerhin in der Theorie erfunden hat, und welche heute durch die meisten Ländern der Welt weit über den europäischen Kontinent hinaus befürwortet und gefördert wird.

Vertraute Begriffe mit verschiedener Bedeutung

So unterschiedliche Ausgangspunkte haben zur Folge, dass viele Begriffe, die diesseits und jenseits des Atlantiks im Glauben verwendet werden, man meine damit das selbe, in Europa und den Vereinigten Staaten eben keineswegs gleich verstanden werden. Einige dieser Begriffe seien hier kurz erläutert.

In Europa besteht demokratische Identität in der Wahl der Parlamente, zu der man in der Eigenschaft als Teil des Volkssouveräns berechtigt ist. US-Amerikaner erleben demokratische Identität viel weniger in diesem Bereich, sondern darin, Rechte zu haben, auf die man sich jederzeit gerne beruft, und die man als Einzelperson oder als Vertretung eines Minderheitsinteresses vor Gericht einklagen kann. So erhalten das Recht und die Justiz in den Vereinigten Staaten eine ganz andere Funktion als in Europa, nämlich eine politische. Die US-Demokratie ist ein «Kampf um Rechte» , die europäische hingegen ein «Kampf um Gesetze» . In den politischen Instanzen, insbesondere in den Parlamenten wird in Europa um die Gesetzgebung gestritten, und die so entstandene Rechtsordnung wird dem Staat anvertraut. Dies ist in den Vereinigten Staaten schon dshalb nicht möglich, weil der Staat – im Gegensatz zur «Nation» – keine eigene ethische Qualität aufweist, weshalb der Gedanke nicht naheliegt, das Recht in der Form einer «Rechtsordnung» dem Staat anzuvertrauen. «Recht» bleibt bei den einzelnen Individuen beheimatet. Wenn in den Vereinigten Staaten die Auseinandersetzung um die Verteilung von Macht direkt – horizontal – in der Gesellschaft zwischen den Privaten stattfindet, und nur zu einem kleineren Teil im Parlament, so deshalb, weil den Gründern dieser Nation die Vorstellung eines vernünftigen Gemeinwillens fremd war, der in Europa der Staatsbildung zugrundeliegt. Sie wollten eine möglichst staatsfreie Gesellschaft, in welcher die Machtverteilung zwischen Privaten oder allenfalls Minderheitsgruppen ausgehandelt wird, um Mehrheiten zu vermeiden, welche die Legitimation hätten beanspruchen können, den Staat zu stärken. Ein staatspolitisches Bewusstsein gibt es jenseits des Atlantiks kaum, anstelle dessen ein um so stärkeres «nationales» Bewustsein. Demokratisierung heisst deshalb im US-amerikanischen Verständnis tendenziell immer «Entstaatlichung» . Aus europäischer Sicht setzt Demokratisierung hingegen den Staat voraus, und dies im Sinne einer staatsphilosophischen Kategorie, die weit über die rein ökonomische Frage nach «mehr oder weniger Sozialstaat» hinausreicht. Europa braucht den Staat und das Phänomen der «Staatlichkeit» , um die Errungenschaften von 1648 bewahren zu können.

Ein weiterer transatlantischer Bedeutungsunterschied findet sich im Verständnis der Nation. In Europa ist die Nation während etwa zweihundert Jahren in gewisser Weise an die Stelle der Religion getreten. Die «Nation» war durch die Romantik ursprünglich als ein rein kulturelles Phänomen erfunden worden, und zwar als Reaktion auf die als zu intellektuell empfundene Aufklärung. Für die abstrakten, aufklärerischen Ideen des Republikanismus brauchte die französischen Revolution jedoch ein identitätsstiftendes Gefäss, nachdem der König als staatliche Identifikationsfigur abgesetzt worden war. In Frankreich wurde deshalb das kulturelle Phänomen der Nation in ein politisches umwandelte, das nun plötzlich zur Bildung von «Nationalstaaten» beitrug. Die längst als Staaten formierten Länder Westeuropas – England, Frankreich, Spanien – wurden damals in die Form staatspolitisch verstandener Nationen gegossen. In Amerika hingegen wurde zwar formal ein Nationalstaat gegründet. Aber aufgrund des von allem Anfang an umgekehrten Verhältnisses zwischen Staat und Religion lag das Fundament der nationalen Gefühle nicht im staatspolitischen Bereich, sondern im religiösen. Dieser transatlantische Unterschied ist bis heute wirksam, wobei sich religiöse Vorstellungen heute auch und vor allem in moralischen Kategorien manifestieren. Europäische Nationen begründen sich staatspolitisch. Die US-amerikanische Nation begründet sich religiös und moralisch. Im Verständnis dieser Nation spielte das «Gute» , für das diese Nation steht, von allem Anfang an eine zentrale und religiös begründete Rolle.

Schliesslich soll noch ein transatlantischer Unterschied im Freiheitsverständnis erwähnt werden. In der Ablehnung von diktatorischen Staats- und Regierungsformen und des Totalitarismus bedeutet Freiheit diesseits und jenseits des Atlantiks zwar das selbe. Im Bereich der «Staatlichkeit» haben Europäerinnen und Europäer in ihrer geschichtlichen Entwicklung jedoch eine Bindung akzeptiert, welche ihnen wiederum ihre Freiheit garantiert. Diese Freiheit umfasst auch die «Freiheit vom Bekenntniszwang» . Staatlichkeit verlangt keine Identifikation, keinen Glauben an diesen Staat, schon gar nicht ein Bekenntnis zu ihm: Staatsbürger oder Personen, die einer Staatlichkeit unterworfen sind, deren Bürgerrecht sie nicht besitzen, können durchaus innere Vorbehalte haben gegen diese Staatlichkeit, eine innere Reserve oder eine ideelle Distanz. Sie müssen sich lediglich an die Rechte und Pflichten halten, die das Gesetz im Verhältnis zwischen ihnen und dem Staat vorsieht. Die Trennung von Recht und Moral schützt sie vor dem Bekenntniszwang. In den Vereinigten Staaten ist hingegen das immer wiederkehrende Bekenntnis unabdingbar, es bezieht sich auf die religiös und moralisch begründete Nation, wie man insbesondere nach dem 11.September 2001 hat beobachten können. Der Unterschied ist darauf zurückzuführen, dass Europa den Staat als dritte Dimension kennt, und dass er über die rein horizontalen Beziehungen zwischen den Individuen hinausgeht. In den Vereinigten Staaten hat demgegenüber die Religion die Funktion dieser dritten Dimension übernommen.

Die Achse der Säkularisierung

Was erst seit 1989 erkannt werden kann, hat jahrhundertealte Wurzeln. Im Kalten Krieg war die Sicht so ausschliesslich durch das Blockdenken geprägt, dass es im «Westen» kaum jemandem in den Sinn gekommen wäre, die ideengeschichtliche Einheit dieses «Westens» in Frage zu stellen. Nun ist diese Einheit öffentlich sichtbar aufgebrochen, und bei näherem Besehen erscheint diese Entwicklung nicht nur als logisch, sondern auch als eine Folge der jahrhundertalten Verschiedenheiten. Die entscheidende transatlantische Weggabelung ist nach wie vor der Westfälische Frieden im Jahre 1648, der für Europa definitiv die Säkularisierung gebracht hat, die Einbindung nämlich der Religion in eine staatliche Ordnung. So gesehen sind die Vereinigten Staaten kein säkularisiertes Land: Nicht nur ist die Religion nicht in eine staatliche Ordnung eingebunden worden, sondern umgekehrt wurde der Staat der Religion untergeordnet. Die strikte Trennung von Kirche und Staat dient dazu, diese Rangfolge aufrechtzuerhalten. Es wäre in den USA nie denkbar, die Religionsfreiheit in der Weise einzuschränken, wie dies die Europäische Menschenrechtskonvention für alle europäischen Staaten vorsieht: Artikel 9 dieser Konvention enthält einen ausdrücklichen Vorbehalt, wonach die Religionsfreiheit zugunsten der öffentlichen Ordnung eingeschränkt werden darf.

Der Islam kennt die Trennung von Staat und Religion nicht. Diese Ausgangslage kann zu ganz verschiedenen Resultaten führen. Einerseits gibt es islamistischen Fundamentalismus, der ganze Nationen hat vereinnahmen können. Andererseits gibt es Staaten mit islamischer Staatsreligion, die religiös durchaus tolerant sind und die Freiheit des Einzelnen respektieren. Der Islam verfügt also durchaus über ein Potential zur Einbindung der Religion in integrierende Strukturen, dies aber nur, wenn dafür günstige Voraussetzungen geschaffen werden können. Der islamistische Fundamentalismus behindert die Nutzung dieses Potentials. Diese Tendenz ist nicht im Islam selber angelegt, sondern der Fundamentalismus missbraucht den Islam politisch genau so, wie die Kreuzritter im Mittelalter das Christentum politisch missbraucht haben, wie es gewisse protestantisch fundamentalistische Sekten vor allem in der dritten Welt heute noch politisch missbrauchen, und wie es der US-Präsident zur Begründung des Irak-Krieges politisch missbraucht. Auch für die anderen grossen Religionen kann die entsprechende Analyse gemacht werden. So scheint es im Hinduismus ebenfalls sowohl säkularisierte als auch nicht säkularisierte Erscheinungsformen zu geben.

Ein Beitrag zur Gewaltverminderung könnte darin bestehen, dass Europa als säkularisierter Teil des sogenannten «Westens» weltweit vermehrt mit anderen säkularisieten Staaten aus den verschiedenen Kulturkreisen zusammenarbeitet, insbesondere mit den säkularisierten Staaten der islamischen Welt. So könnte eine «Achse der Säkularisierung» entstehen. Dieser Dialog ist genau so wichtig wie der transatlantische, wobei das Gespräch mit jenen US-Amerikanern natürlich weitergeführt werden muss, welche sich auch für europäisches Denken interessieren. Europa hat eine 350 jährige Erfahrung darin, wie Religion staatlich eingebunden werden kann. Was Kriege anbelangt, hat Europa darüber hinaus so viel Schuld und Leiden auf sich geladen, dass es heute fähig geworden ist, Leiden in Einsicht umzuwandeln. Nicht nur dadurch hat Europa in diesem Bereich eine besondere Verantwortung, sondern auch aus ökonomischen Gründen. Weltpolitik funktioniert nun einmal so, dass sich ökonomisch starke Regionen besser durchsetzen können als ökonomisch schwache. Europa ist der einzige Kontinent, der ökonomisch stark und gleichzeitig säkularisiert ist. In dieser Kombination hat Europa eine immense Verantwortung, und seit einigen Wochen nimmt dieser Kontinent dieser Verantwortung zum ersten Mal explizit wahr, wenn auch noch tastend und zögernd. Und dennoch hätte man sich vor kurzem noch kaum vorstellen können, das sich Europa so exponieren würde, um einen Krieg zu verhindern.

Europäische Perspektiven

Zieht man die jahrhundertealte Geschichte der transatlantischen Unterschiede in Betracht, so können einen die gegenwärtig stattfindenden innereuropäischen Kontroversen kaum erschüttern. Europäische Staaten – und zwar sowohl westeuropäische als auch mittelosteruopäische – können sich nicht «amerikanisieren» , es sei denn, sie gingen an ihre eigenen und immer noch prägenden Wurzeln des 17.Jahhunderts zurück und würden dort die Rangfolge zwischen Staat und Religion umdrehen. Solches ist kaum vorstellbar. Wenn heute einige mittelosteuropäische Staaten eine gewisse Affinität zum US-amerikanischen Staatsminimalismus erkennen lassen, so liegt dies einfach darin begründet, dass die kommunistische Herrschaft den Staat gründlich in Misskredit gebracht hat. Dies sind aber verglichen mit der jahrhundertealten europäischen Geschichte Phänomene an der Oberfläche, welche sich bald abschwächen werden, beschleunigt insbesondere auch durch die Intergration vieler dieser Staaten in die Europäische Union.

Neben der erwähnten «Achse der Säkularisierung» , in deren Aufbau Europa eine Perspektive erkennen könnte, sollte auch der transatlantische Dialog weitergeführt werden. Gegenseitige Schuldzuweisungen bringen diesen Dialog nicht weiter, sondern er ist beidseits des Atlantiks nur zwischen jenen möglich, welche die historische Bedingtheit des Dialogpartners zu erkennen und zu verstehen suchen. Dabei sollten die europäischen Partner sich nicht vornehmen, die Vereinigten Staaten zu europäisieren. Die Geschichte der «neuen Welt» lässt dies nicht zu. Hingegen kann man versuchen, jenen US-Amerikanern, die sich dafür interessieren, die ideengeschichtlichen Unterschiede zwischen Europa und den Vereinigten Staaten bewusst zu machen. Dies bedingt aber wiederum, dass Europa selber seine historisch gewachsene Staats- und Rechtskultur kennt und öffentlich klar benennt. Nicht zuletzt davon wird es abhangen, ob Europa in der Lage sein wird, aus dem Irak-Krieg weiterführende Schlüsse zu ziehen und diese in einer Weise in die Nachkriegs-Zeit einzubringen, welche den Frieden auf dieser Welt nachhaltig fördert.