Gret Haller
State-Building statt Nation-Building
Blätter für deutsche und internationale Politik 11 / 2003

Obschon die militärischen Interventionen in Bosnien, in Afghanistan und im Irak nicht verglichen werden können, was ihre völkerrechtliche Legitimation und ihre Trägerschaft anbelangt, verbindet sie eine Gemeinsamkeit: Die Bedingungen des zivilen Wiederaufbaues waren und sind weitgehend durch die Vereinigten Staaten geprägt oder sogar durch sie allein konzipiert worden. Zwar wurden für Bosnien auch europäische Staaten in die Verhandlungen einbezogen, weil für den militärischen Einsatz eine Einigung mit den NATO-Partnern getroffen werden musste, der auch den nicht-militärischen Bereich umfasste. Dennoch geht das Aufbaumodell stark von US-amerikanischen Prämissen aus, was auch auf den US-Konferenzort in Dayton / Ohio zurückzuführen ist (1). Für Afghanistan und den Irak erfanden die USA später das Konzept einer «Koalition der Willigen» , so dass auch für den nicht-militärischen Bereich der Weg des Krisenmanagements ohne im Detail ausformulierte internationale Grundlage beschritten wurde. Gemeinsam ist den drei Interventionen im weiteren, dass sich der zivile Wiederaufbau dem militärischen Einsatz unterordnete, ein für die Vereinigten Staaten völlig selbstverständliches Vorgehen: Schon in Dayton ­ und um so deutlicher in Afghanistan und im Irak ­ wurde auch der nicht-militärische Bereich maßgeblich durch das Pentagon konzipiert (2).

Nach wie vor ist die Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton mit großen Schwierigkeiten verbunden. Immer noch verfügen viele Bewohner Bosniens nicht über eine hinreichend ausgeprägte staatspolitische Identität, welche es erlauben würde, die ethnisch dominierte Identität zu ersetzen, zu welcher die Kriegsjahre notwendigerweise geführt haben. Die öffentliche Ordnungsstruktur der Staatlichkeit war über Jahre völlig verschwunden, sie wurde ersetzt durch Gewaltstrukturen entlang von ethnisch definierten Clans, und das Überleben hing auch davon ab, diese immerhin zu kennen. Ohne staatspolitische Identität ist der Weg zurück in geordnete Verhältnisse nicht möglich, denn die Politik denkt weiterhin vor allem in ethnischen Kategorien, öffentliches Leben und Gesetzgebung bleiben dadurch blockiert. Dies hindert letztlich auch das Entstehen genügender Rahmenbedingungen für eine wirtschaftliche Entwicklung. Auch ausserhalb Bosniens wächst heute das Bewusstsein, dass die Grundstruktur des Abkommens von Dayton selbst die Normalisierung behindert, da es die staatlichen Strukturen weitgehend entlang der drei ethnischen Gruppen konstruiert hat (3). Selbstredend war es nicht denkbar, die ethnische Zugehörigkeit in den Verhandlungen von Dayton völlig auszublenden, und in den Anfängen war eine Struktur entlang ethnischer Linien möglicherweise der einzige Weg. Gleichzeitig hätte aber die Perspektive und ein Zeitplan für den Übergang in staatspolitisch verantwortbare Strukturen festgelegt werden müssen. Dies geschah nicht.

Darin widerspiegelt sich ein US-amerikanisches Gesellschaftsverständnis, welches sich vom europäischen grundlegend unterscheidet und geschichtlich bedingt ist. Als im ausgehenden 18.Jahrhundert Nationalstaaten gebildet wurden, hatte sich die Ausgangslage in Europa und in den Vereinigten Staaten bereits sehr unterschiedlich entwickelt. In Europa war die Religion bereits hundertfünfzig Jahre früher säkularisiert und in eine staatliche Ordnung eingebunden worden. Jenseits des Atlantiks hatten die puritanischen Pilgerväter in diesem Zeitraum eine möglichst staatsfreie Gesellschaft begründet, denn sie hielten die verschiedenen Religionsgemeinschaften für die öffentliche Ordnung schlechthin, die gar keines Staates bedurfte. Die unterschiedliche Ausgangslage diesseits und jenseits des Atlantiks führte zu einer unterschiedlichen Begründung der Nation, die sich bis heute auswirkt. Alle europäischen Nationen sind staatspolitisch begründet. Die US-amerikanische Nation begründet sich hingegen moralisch, was gelegentlich auch religiös untermauert wird. Staatspolitische Identität ist den Bewohnern der Vereinigten Staaten ziemlich fremd. Anstelle dessen ist die nationale Identität stark ausgeprägt, dies aber ohne eine staatspolitische Komponente nach europäischem Muster. An die Stelle der staatlichen Ordnungsstruktur, die in Europa den Zusammenhalt der Gesellschaft sicherstellt, sind in den USA die selbstgewählten Gemeinschaften getreten, nicht nur in der Form von Religionsgemeinschaften, sondern vielfältiger Clubs, Vereine und Organisationen verschiedener Zielsetzungen. Hans Joas weist auf einen Unterschied zwischen Europa und den USA hin, der darin besteht, dass in Europa der Übergang von der «Gemeinschaft» zur «Gesellschaft» in der Theorie zweiphasig gedacht werde, während die entsprechenden Theorien in den Vereinigten Staaten dreiphasig gedacht würden: An die Stelle der naturwüchsigen mittelalterlichen Dorfgemeinschaft, in die man hineingeboren war, tritt zunächst die künstlich erzeugte «bessere» Gemeinschaft der individuell eingewanderten Menschen (4).

Sowohl Bosnien als auch Afghanistan und der Irak befinden sich auf dem Weg vom «Stammeswesen» zum «Staatswesen» in einer Krise, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Stammesfehden sind der Staatsbildung zu allen Zeiten und oft vorausgegangen. Nationalismus und insbesondere Ethnonationalismus setzen hingegen zunächst ein gewisses Minimum der Staatlichkeit voraus und verursachen dann einen Rückschritt auf dem beschriebenen Weg. Ihr Durchbrechen zerstört die staatspolitische Komponente der nationalen Identität und verwandelt diese dadurch in eine nationalistische. Ernest Gellner ortet das Entstehen von Nationalismus immer dort, « ... wo sich eine Gesellschaft die Sprache einer Gemeinschaft aneignet; das heisst, eine sozial mobile, anonyme Gesellschaft tut plötzlich so, als sei sie eine nach aussen geschlossene, traute Gemeinschaft (5). Die Anführer sowohl in Stammesfehden als auch in ethnonationalistischen Konflikten lehnen Staatlichkeit als solche ab, weil staatspolitische Identität die Grundlage ist, welche dem individualisierten Einzelnen die gesellschaftliche Zugehörigkeit ohne die Berufung auf irgendwelche Herkunftskriterien und ohne das Bekenntnis zu irgendwelchen Gemeinschaften ermöglicht. Staatspolitische Identität beraubt diese Anführer ihrer Anhängerschaft und damit ihrer Machtbasis.

Bosnien, Afghanistan und der Irak machen unter anderem folgendes deutlich: Das US-Modell, welches den Zusammenhalt der Gesellschaft über «Gemeinschaften» anstrebt, bietet letztlich keine Alternative zum Stamm und zur ethnisch definierten Volksgruppe. Das Bekenntis zur freigewählten Gemeinschaft ist dem Bekenntnis zur herkunftsdefinierten Gemeinschaft zu ähnlich, auch wenn aus dem erstgenannten freiheitliche Gesellschaften resultieren können, während das zweitgenannte der Individualisierung entgegensteht. Beide Vorgänge basieren auf der psychologischen Grundkategorie von Inklusion und Exklusion, gesellschaftliche Zugehörigkeit wird über ein Bekenntnis erreicht. Staatspolitische Identität operiert demgegenüber jenseits vom Bekenntiszwang, das Individuum hat gesellschaftliche Zugehörigkeit ungeachtet der Zugehörigkeit zu Gemeinschaften. Das US-amerikanische Verständnis der Nation kann zur Befriedung clanverfeindeter Gesellschaften wenig beitragen, weil es sich geschichtsbedingt nicht staatspolitisch begründet. Deshalb führt auch der Begriff des «nation-building» nicht weiter, solange er im US-amerikanischen Sinne einer möglichst staatsfrei funktionierende Gesellschaft verstanden wird, deren Zusammenhalt über Gemeinschaften erfolgt. Besonders deutlich wird die Paradoxie, wenn im selben Atemzug von «failed states» und «nation-building» gesprochen wird. In Ländern, in welchen die öffentliche Ordnung zusammengebrochen ist, nützt der bloße Aufbau einer Nation jedoch wenig, wenn er nicht auf die Errichtung staatlicher Strukturen zur Überwindung ethnischer Konflikte gerichtet ist.

Die US-amerikanischen Konzepte des «nation-building» gehen dagegen davon aus, dass der Mensch von Natur aus seine Herkunftsbindung ablegen wolle, um sich selbstgewählten Gemeinschaften zuwenden zu können ­ bildlich gesprochen ist die anthropologische Grundkategorie der «Abbruch der Brücken hinter sich und das Bekenntnis zur Neuen Welt» . Daraus ergebe sich dann von selbst eine öffentliche Ordnung ­ dies also auch ohne staatspolitische Identität nach europäischem Muster. Dem europäischen Betrachter erscheint dies zunächst als Konzeptlosigkeit, die sich erst bei näherem Besehen selber als ein eigenes gesellschaftspolitisches Konzept zu erkennen gibt. Die europäische Erfahrung hingegen lehrt, dass nationale Identität nur dann vor dem Umkippen in gewalttätigen Nationalismus geschützt ist, wenn sie auch eine starke staatspolitische Komponente aufweist. Besteht eine Gesellschaft praktisch vollständig aus individuellen Einwanderern und ihren Nachkommen, so scheint das US-amerikanische Gesellschaftsmodell zu funktionieren. Auf Gesellschaften mit kollektiv erlebter Geschichte oder mit verschiedenen kollektiv erlebten Geschichten kann dieses Modell aber nicht übertragen werden, und insbesondere in ethnonationalistisch oder sonstwie stammesverfehdeten Gesellschaften muss es versagen (6). Eine gewisse Tragik liegt darin, dass ein relativ weitverbreitetes ­ und teilweise religiös bedingtes ­ US-amerikanisches Sendungsbewusstsein genau dieses Unmögliche von sich selber verlangt. Jeder im Irak getötete US-Soldat führt uns diese Tragik vor Augen. Als kürzlich der irakische Verfassungsausschuss sein Mandat zur Erarbeitung des Verfahrens bei der Berufung der Verfassungsgebenden Versammlung unverrichteter Dinge an den von den USA eingesetzten Regierenden Rat zurückgab, bemerkte ein Berichterstatter dazu resigniert, es dränge sich nun bei jedem Aufbauschritt «die potenziell verheerende Quotenpolitik auf, welche anstelle der staatsbürgerlichen Verantwortung vor allem das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einem Clan und zu einer spezifischen Gemeinschaft» betone (7). Das Modell kann im Friedensabkommen von Dayton studiert werden (8). Wenn die Vereinigten Staaten nicht in der Lage sind, die nötige Befriedungshilfe zu leisten, weil ihnen die geschichtlichen Voraussetzungen dazu fehlen, so können um so mehr die europäischen Staaten ihre Erfahrung einbringen. Dies setzt allerdings voraus, dass sie die Struktur der Aufbauhilfe selber bestimmen. Anstelle von «nation-building» zunächst einmal ganz bewußt von «state-building» zu sprechen, um die Notwendigkeit staatspolitischer Identität als Grundlage für alle weiteren Aufbauschritte zu betonen, könnte ein zwar bescheidener, aber doch vorausschauender Anfang sein.

1) Wolfgang Ischinger, 21 Tagen Dayton, in: Auswärtiges Amt (Hg.), Deutsche Aussenpolitik 1995, Auf dem Weg zu einer Friedensregelung für Bosnien-Herzegowina: 52 Telegramme aus Dayton. Eine Dokumentation, Bonn 1998, S. 32.

2) Vgl. für Bosnien a.a.O., S. 81, 82 und 98, für Irak und Afghanistan den Artikel von Frederick W. Kagan in diesem Heft, S. .

3) Vgl. Carsten Stahn, Die verfassungsrechtliche Pflicht zur Gleichstellung der drei ethnischen Volksgruppen in den bosnischen Teilrepubliken – Neue Hoffnung für das Friedensmodell von Dayton?, in: «Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht» , 3 / 4.2000, S. 663-713.

4) Hans Joas, Gemeinschaft und Demokratie in den USA. Die vergessene Vorgeschichte der Kommunitarismus-Diskussion, in: Micha Brumlik und Hauke Bunkhorst (Hg.),Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1993, S. 54-55.

5) Ernest Gellner, Nationalismus. Kultur und Macht, Berlin 1999, S. 123.

6) Solche Aspekte fehlen verständlicherweise in Studien US-amerikanischer Herkunft, auch wenn sie kritisch sind wie die soeben erschienene Studie der RAND Corporation: America's Role in Nation-Building: From Germany to Iraq.

7) Neue Zürcher Zeitung, 2. Oktober 2003.

8) Gret Haller, Die Grenzen der Solidarität. Europa und die USA im Umgang mit Staat, Nation und Religion, Berlin 2002, S. 107ff.